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Kaum wegzudenken: Harald Mier unterrichtet seit 1982 am Schadow-Gymnasium. Seit fast 20 Jahren ist er dort Schulleiter.

© Thilo Rückeis

Harald Mier im Interview zu Gymnasien in Berlin: „Das Abitur ist systematisch abgewertet worden“

Harald Mier, bekannt als „Mister Gymnasium“, geht in den Ruhestand. Ein Interview über Schüler und Schule im Wandel der Zeiten.

Vor ein paar Tagen hat ein Charlottenburger Schulleiter eine halbe Klasse von der Abschlussfahrt vorzeitig nach Hause geschickt, weil die Schüler mit Bier erwischt wurden. Richtig so?
Ich kenne keine Einzelheiten dieses Falles, aber eines kann ich ganz klar sagen: So genannte Abschlussfahrten sind in der Regel pädagogischer Unsinn, sie stehen im Widerspruch zu allen Zielsetzungen von Schülerfahrten. Für Schüler sind das Spaßveranstaltungen, bei denen das Über-die-Stränge-Schlagen eingeplant ist. Das vorzeitige Nachhauseschicken ist nur das konsequente Ende einer offenbar falsch verstandenen Veranstaltung.

Sie haben vor rund 40 Jahren erstmals vor einer Klasse gestanden. Können Sie beschreiben, was sich seither im Verhalten der Schüler verändert hat?

Im Kern hat sich nichts gewandelt, die Schüler von damals wie von heute wollen fair und gerecht behandelt und ernst genommen werden, die pädagogischen Leitlinien sind und waren Zuwendung und Konsequenz. Schüler suchen auch heute Grenzerfahrungen und fordern sie auf ihre Art ein. Gewandelt hat sich eher die Haltung der Erwachsenen: Lehrkräfte und Eltern sind nicht mehr in dem Maße zur Grenzziehung, man kann auch sagen zur Erziehung, bereit oder fähig.

Sind die Schüler heute schwerer zu beeindrucken?

Sie können auch heute wie eh und je Schüler mit gutem Unterricht beeindrucken. In letzter Zeit hat die Binsenweisheit wieder Konjunktur, dass es primär auf die Lehrkraft ankommt. Manchmal geraten Selbstverständlichkeiten durch überbordende Reformitis aus dem Blick. Guter Unterricht ist nicht abhängig von der Methode, auf die Abwechslung kommt es an, variatio delectat! Achtung vor denen, die da vorgeben, sie würden den didaktischen Königsweg kennen.

In ein paar Tagen stehen die Abiturergebnisse fest. Von Jahr zu Jahr werden die Noten besser, obwohl alle wissen, dass die Schüler nicht mehr wissen als früher. Ist das nicht Selbstbetrug?

Beim Abitur sind viele Stellschrauben betätigt worden, die die Notendurchschnitte angehoben haben. Dazu gehören die zentralen Prüfungen, aber auch das Absenken des Bewertungsschlüssels: Heute ist es leichter als früher, eine Eins oder gerade noch eine Vier zu bekommen. Das ist politischer Wille. Wohlgemerkt, das ist keine Kritik an den Abiturienten, die können sich nicht mit anderen Zeiten vergleichen. Sie orientieren sich an dem derzeitigen System, sie wachsen auf mit der Hatz auf gute Notendurchschnitte. Allein die genannten Änderungen beim Bewertungsschlüssel ergeben eine Anhebung der Abiturdurchschnitte um etwa fünf Zehntel. Nicht die Leistungsfähigkeit unserer Abiturienten ist um fünf Zehntel besser geworden, das System hat sie ihnen in die Wiege gelegt. Vielleicht haben diejenigen recht, die von der Ausstellung ungedeckter Bildungsschecks sprechen.

Manche Abituraufgaben sind so einfach, dass man sie – ohne den Stoff zu kennen – mit gesundem Menschenverstand lösen kann. Muss man sich Sorgen machen um die Qualität der Hochschulreife?
Unabhängig von dem reflexartigen Bejammern der Fähigkeiten von Schulabgängern durch die Universitäten und berufliche Ausbildner ist das Abitur systematisch abgewertet worden. War es früher die alleinige Hochschulzugangsberechtigung, so führen heute viele Universitäten eigene Aufnahmeverfahren fachspezifisch durch. Die Politik möchte möglichst viele Abiturienten. Es ist die simple quantitative Botschaft, dass viele Abiturienten ein Indiz für ein gutes Bildungswesen seien. Wenn das so einfach wäre!

Gymnasien und Sekundarschulen gleichen sich formal zunehmend an. Ist Berlin auf dem Weg zu einer Schule für alle?

Vor der Einheitsschule möge Gott oder wer auch immer uns bewahren. Der Gedanke der Einheitsschule dient der Egalisierung des Niveaus und damit seiner Absenkung. Kinder sind und entwickeln sich ganz unterschiedlich, dem muss ein Bildungssystem durch vielfältige Angebote Rechnung tragen. Mit der Schulstrukturreform im Zwei-Säulen-Modell von Sekundarschule und Gymnasium hat sich Berlin gut aufgestellt, leider fehlt es hier und da am klaren Bekenntnis für beide Säulen.

Woran machen Sie das fest?

Man kann schon beunruhigt sein angesichts der Tatsache, dass es im Jahr 2005 einen SPD-Parteitagsbeschluss zur Abschaffung der Gymnasien gab. Darum hört man von der Senatorin auch keine Bestandsgarantie für diese Schulform.

Ihr Bezirk ist bekannt für seine maroden Schulen und schlechte Kommunikation im Bezirksamt, aber auch andernorts sind die Schulen frustriert und fühlen sich von den Schulämtern allein gelassen. Haben Sie ein paar Tipps, was anders werden müsste?

Nicht nur Schule, die Infrastruktur der gesamten Stadt steht auf der Kippe! Die Zweistufigkeit der Verwaltung – also Senat hier und Bezirke dort – ist nicht per se schlecht, aber die Bezirke dürfen finanziell nicht zu kurz gehalten werden und sollten die Schulen als ihre regionalen Leuchttürme begreifen. Ich habe mir immer gewünscht, dass nicht nur eine klitzekleine, sondern eine mittelgroße Summe für die bauliche Unterhaltung in die Hände einer immer selbstständiger werdenden Schule gegeben wird.

Zur Person: Am Freitag ist Abschied

Der gebürtige Neuköllner Harald Mier, 65, ist Mathematik- und Physiklehrer. Seit 1996 leitet er das Zehlendorfer Schadow-Gymnasium. Am Freitag wird er dort verabschiedet. Zusammen mit Jobst Werner gründete Mier 1992 den Verein der Oberstudiendirektoren, der sich als Sprachrohr der Gymnasien versteht. Mier hat den Verband 2001–2007 geleitet, ist heute dessen Ehrenvorsitzender. Als Vertreter Berlins war er sechs Jahre lang Vize-Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz. Mier will weiterhin Fortbildungen für Schulleiter anbieten und die Zeitschrift „Schulleitung Heute“ herausgeben sowie „noch das eine oder andere schreiben, vielleicht auch etwas, das gar nichts mit Schule zu tun hat!“

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