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Vielen Schülern fallen die Hausaufgaben erst abends ein.

© Jens Kalaene/picture alliance/dpa

Hausaufgaben-Hilfe: Kontrolle blockiert Vertrauen

Am Morgen der Klassenarbeit keinen Schimmer? Kann passieren. Allerdings ist das nicht unbedingt Sache der Eltern, findet unsere Autorin.

Von Susanna Nieder

Das Schuljahr hat ganz gut begonnen. Die Kinder sind ausgeruht und einigermaßen sortiert, aber das wird nicht so bleiben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis mein Sohn die erste Vokabelarbeit in den Sand setzt und meine Tochter um acht Uhr abends „Ich kann nicht mehr!“ intoniert, weil ihr gerade eingefallen ist, dass die Mathehausaufgaben, seit Tagen bekannt, morgen früh fällig sind.

Was mache ich dann? Die Kinder anschreien? Mich zurückziehen, weil ich schließlich schon tausend Mal gepredigt habe, dass Dranbleiben alles ist, macht euren Kram doch alleine? Mich hinsetzen und den Stoff mit ihnen durchgehen, obwohl ich mein Abitur verdammt nochmal schon längst in der Tasche habe?

Alles schon ausprobiert, hat alles nicht geholfen. Was aber einen Durchbruch gebracht hat, war eine Erkenntnis, die mich im letzten Schuljahr traf wie ein Blitz. Mein Sohn, 7. Klasse, bilingualer Zweig, wollte um sieben Uhr früh von mir in Englisch abgehört werden, Klassenarbeit am selben Tag. Aber egal, was ich fragte – der Junge hatte keinen Schimmer. Er wusste buchstäblich nichts. Fassungslos starrte ich ihn an. Wenn ich von den Schulfächern was draufhabe, dann Englisch. Ich kann das nicht nur richtig gut, ich bilde mir auch ein, ziemlich geduldig zu sein und mich bereitwillig zur Verfügung zu stellen. Und jetzt das!

Wie damals in Latein

An dieser Stelle klingelte etwas bei mir. Kinder haben ja die Eigenschaft, in ihren Eltern längst vergessene, überwunden geglaubte Situationen wieder hochzuholen. Diese hier kam mir sehr vertraut vor, nur war damals die Sprache Latein, mein Vater der fassungslose Spezialist und ich das peilungslose Kind. Jahrelang ist er zweimal in der Woche mit mir den Stoff durchgegangen, geduldig, bereitwillig. Wenn ich dann zum hundertsten Mal die beiden grundlegenden Satzkonstruktionen ablativus absolutus und ACI durcheinanderbrachte, schaute er mich genauso fassungslos an wie ich jetzt meinen Sohn.

Latein ist nie richtig bei mir angekommen, als hätte mein Vater es auf seiner Seite festgehalten, anstatt mich damit losgehen zu lassen. Während ich noch mein Kind anstarrte, begann es in meinem Kopf zu rattern. Wo halte ich fest? Wie bei einem einarmigen Banditen ruckelte die entscheidende Frage heran und blieb direkt vor meinem inneren Auge stehen: Warum willst du so dringend, dass dein Kind gute Noten schreibt? Damit es später eine gute Arbeit findet, ein gutes Leben hat? Mag sein. Aber die ehrliche Antwort lautet: Ich will, dass mein Kind Erfolg hat, weil ich sonst als Mutter versage.

Das saß. Und es tat weh. Wer will schon ein solcher Egoist sein, dass er die eigene Versagensangst über den Erfolg der Kinder stellt! Doch kaum etwas ist so scheußlich wie das Gefühl, zu versagen – gerade den eigenen Kindern gegenüber. Mir wurde klar, dass ich mich und meinen Jungen unter Druck gesetzt hatte, um mich der Möglichkeit des Versagens nicht stellen zu müssen.

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Vertrauen statt Erfolg erzwingen

Vielen Schülern fallen die Hausaufgaben erst abends ein.
Vielen Schülern fallen die Hausaufgaben erst abends ein.

© Jens Kalaene/picture alliance/dpa

Auch mein Vater hat sich und mich unter Druck gesetzt. Aber dadurch, dass er meinen Erfolg herbeizwingen wollte, hat er ihn kontrolliert. Wenn er mir vertraut hätte, wäre es wahrscheinlich anders gelaufen. Ich habe später Fremdsprachen mit großer Begeisterung für tüftlerische linguistische Feinheiten studiert, nur Latein konnte ich mir nie aneignen.

Also, wozu sollte mein Kind gute Noten schreiben? Wichtig ist doch nur, dass es lernt, sich und seinen Fähigkeiten zu vertrauen. Noten sind die allermeiste Zeit nichts als Zwischenstandsmeldungen. Also erstmal keine Panik. Derzeit absolvieren die Kinder der Helikopter-Eltern ihre ersten Berufspraktika. Nach der Generation X, die denkt, sie muss mit 16- Stunden-Tagen den Weltuntergang verhindern, und der Generation Y, die auf ihre Life-Work-Balance achtet, sind die jungen Praktikanten der Generation Z so gewöhnt, dass ihr Erfolg von den Altvorderen in die Wege geleitet und kontrolliert wird, dass sie ständig Rückmeldung brauchen, ob sie alles gut gemacht haben. Das Leben ist wahrlich einfacher, wenn Selbstvertrauen und eine realistische Selbsteinschätzung von Anfang an gefördert werden.

Ich habe an dem Morgen aufgehört, meinen Sohn anzustarren. Er hat sich den Stoff nochmal angeschaut und ist entspannt zur Schule gegangen. Ich stand noch eine Weile im Flur und dachte: Für eine Vier wird es schon reichen. Lass los. Und sag nie, nie wieder: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Kontrolle blockiert Vertrauen, auch Selbstvertrauen.

Seither ist es auch einfacher, wenn meine Tochter über einer Hausaufgabe verzweifelt. Weil mein Seelenheil nicht mehr dranhängt, kann ich ihr jetzt aus der Patsche helfen, indem ich ihr die Wahl lasse: Entweder du atmest tief durch und machst die Aufgaben jetzt noch, oder du stellst dir morgen früh den Wecker und erledigst sie dann. Meist entscheidet sie sich für die dritte Möglichkeit, aber das ist nicht das Ausschlaggebende. Wichtig ist, dass es ihre Entscheidung ist, für die sie die Verantwortung übernehmen kann.

Die Klassenarbeit meines Sohnes geriet in den folgenden Wochen in Vergessenheit. Irgendwann fiel sie mir wieder ein. Ich fragte ihn, was er eigentlich geschrieben hatte. Er sagte: „’ne Zwei. Wieso?“ Und das war überhaupt das Beste. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass es mir gelungen war, ein Muster über Bord zu werfen, das meine Familie wahrscheinlich schon seit Generationen gequält hatte. Es ist einfach nicht mehr bei ihm angekommen.

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