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Es könnte noch voller als sonst werden, wenn Schüler ohne Einwilligung der Schule ein Jahr wiederholen können.

© Kitty Kleist-Heinrich

Update

„Hilferuf“ an die Schulleiter: Berlin kann nicht alle Kinder beschulen

Vorgeschmack aufs kommende Schuljahr: Schon jetzt fehlen allein im Bezirk Tempelhof-Schöneberg knapp 90 Schulplätze. Grüne fordern berlinweite Übersicht.

Der Schulplatzmangel hat eine neue Qualität angenommen - zumindest im Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Hier können zurzeit knapp 90 potenzielle Schüler nicht unterrichtet werden, obwohl sie schulpflichtig sind.

In allen Fällen handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die mangels Deutschkenntnissen Anspruch auf Förderung in Kleinklassen mit bis zu zwölf Kindern hätten. Es stellte sich allerdings heraus, dass sich unter den rund 60 Schulen im Bezirke keine einzige gefunden hat, die bereit wäre, diese zusätzlichen Kinder aufzunehmen. Die Schulleiter argumentieren mit Platzmangel und vereinzelt auch mit fehlendem Personal.

Bekannt wurde der Missstand durch eine Art Brandbrief, den der zuständige Fachbereichsleiter des bezirklichen Schulamtes, Steffen Künzel, zum Ende der Weihnachtsferien an alle Schulen geschickt hat. Der Brief, den der Beamte selbst als "Hilferuf" bezeichnet, liegt dem Tagesspiegel vor.

Das Schulamt nennt die Lage "prekär"

Künzel spricht darüber hinaus von einem "Notstand": Die Situation bei der Beschulung dieser Schülerklientel sei "prekär".

Konkret geht es um

  •   sechs fehlende Schulplätze für die Schulanfangsphase
  •  30 fehlende Schulplätze für die Klassenstufen 3 bis  6
  •  50 fehlende Schulplätze für die Klassenstufen 7 bis 10.

"Wir standen in den vergangenen Jahren noch nie zu einem solch frühen Zeitpunkt vor der Herausforderung, mit einer Warteliste arbeiten zu müssen", heißt es in dem Brief an die Schulleiter. Überhaupt sei es noch nie passiert, dass fast 90 Kinder und Jugendliche nicht zeitnah mit einem Schulplatz in einer Lerngruppe versorgt werden konnten.

Der leitende Beamte macht keinen Hehl daraus, dass seinem Hilferuf zahlreiche missglückte Lösungsversuche vorausgegangen sind. Es habe "intensive Gespräche mit einzelnen Schulleitungen und der Schulaufsicht seit Beginn des Schuljahres" gegeben: Alle Versuche scheiterten entweder an fehlenden Räumen oder an fehlendem Personal.

Ausnahmen soll es nicht mehr geben

So soll es aber nicht weitergehen. Mit anderen Worten: Das Schulamt will nicht mehr hinnehmen, dass partiell gegen die gesetzliche Schulpflicht verstoßen wird: "Bisherige Ausnahmen können ab sofort nicht mehr aufrecht erhalten werden", schreibt Künzel. Was der Auslöser für diese Entscheidung zum härteren Durchgreifen gab, erwähnt er nicht.

Um die Lage zu verändern, appelliert Künzel an die Schulleiter 

  • noch einmal kurzfristig zu prüfen, ob Sie an ihren Schulen nicht doch eine Lerngruppe "zusätzlich, wieder oder auch erstmalig" einrichten können
  • Teilungs-, Gruppen- und sonstige kleinere Räume zu nutzen
  • selbst Gruppen mit traumatisierten Geflüchteten auf die Mindestzahl von zwölf Schülern aufzustocken.
  • sich bis zum 9. Januar zurückzumelden.

Bisherige Ausnahmen könnten ab sofort nicht mehr aufrecht erhalten werden, mahnt Künzel. Noch vor den Winterferien werde das Schulamt "verbindliche Festlegungen treffen".

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Kritik an der Senatsverwaltung für Bildung

Der Fachbereichsleiter spart aber auch nicht mit Kritik an der Senatsverwaltung für Bildung: Die sei "fälschlicherweise von stetig sinkenden Fallzahlen ausgegangen". Besonders prekär sei die Situation im Bereich der weiterführenden Schulen. Leider hätten Schulleitungen ihre Lerngruppen ohne Zustimmung des Schul- und Sportamtes geschlossen und kein Personal mehr angemeldet. "Wir können diese Fälle nicht akzeptieren und werden den Schulen kurzfristig entsprechend Schülerinnen und Schüler zuweisen, da diese Lerngruppen für uns weiterhin bestehen", kündigt Künzel jetzt eine härtere Gangart an.

Alle Schulen werden in die Pflicht genommen

Besonders streng sollen jene Schulen durchleuchtet werden, die noch nie eine so genannte Willkommensklasse hatten: Alle Schulen seien in der Pflicht nur jene, die mangels Nachfrage mehr Platz hätten. Ausdrücklich erwähnt Künzel die Gymnasien, die ebenfalls mehr Lerngruppen ohne Deutschkenntnisse aufnehmen müssten. Die Sekundarschulen seien schon mit den Rückläufern der Gymnasien stark belastet.

Wie berichtet ist der Platzmangel an allen Schulformen längst so groß, dass die empfohlenen Klassengrößen überschritten werden müssen. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) sieht darin auch künftig eine von mehreren Stellschrauben, um das Fehlen von rund 9500 Schulplätzen zu kompensieren. Zudem sollen freie Schulen Fördergelder erhalten, um zusätzliche Kapazitäten schaffen zu können.

Philologenverband vermisst „rechtzeitige Vorsorge“

Die Politik habe es "vor Jahren versäumt, rechtzeitig Vorsorge zu tragen", kritisierte am Montag der stellvertretende Vorsitzende des Philologenverbands, Ferdinand Horbat. Leider sei dem Senat die "Kosten-Leistungs-Rechnung" wichtiger als die notwendige Vorsorge für die Schüler gewesen. Daher seien zu viele Schulen geschlossen worden und zu wenige Lehrer ausgebildet worden.

FDP: „Keine Raketenwissenschaft“

Kritik kam auch aus der Opposition im Abgeordnetenhaus.

Paul Fresdorf, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion sagte: Aus dem Hause Scheeres wurde Ende 2019 noch gemeldet, dass die Problematik der fehlenden Schulplätze in Berlin vorerst gelöst ist. Die Realität sieht aber anders aus, obwohl der Senat eigentlich alle Daten für die zu erwartenden Schulplatzzahlen haben müsste. Somit ist das alles keine Raketenwissenschaft.“ Die FDP schlägt vor, die Kompetenzen in den Bereichen Schulneubau und Schulsanierung in der Hand einer Gesellschaft des Landes Berlins zu bündeln.

Die CDU sieht Klärungsbedarf

Die bezirkliche CDU-Fraktion hat infolge des aufgetretenen Defizits bei den Schulplätzen einen erheblichen Informationsbedarf und formulierte inzwischen eine umfangreiche Anfrage. So will sie wissen, wie es sein kann, dass das Schulamt noch im Schulausschuss am 3. Dezember 2019 den Verordneten erklärt habe, dass die Schüler ohne Deutschkenntnisse "gerade noch so" beschult werden könnten, jetzt aber von einem Notstand spreche. Zudem wollen Fraktionschef Matthias Steuckardt und Bildungsfachmann Christian Zander wissen, wie "Senatorin Scheeres zu der Erkenntnis gelangt ist, dass in Berlin alle Kinder mit einem Schulplatz versorgt seien" wenn allein in Tempelhof-Schöneberg aktuell 86 Kindern und Jugendlichen kein Schulplatz angeboten werden könne und Wartelisten existierten.

Grüne kritisieren "unentschuldbares Versäumnis"

Auch die Grünen im Bezirk sind beunruhigt. "Es macht mich fassungslos, dass ein großer wichtiger Bezirk mit knapp 60 Schulen wie Tempelhof-Schöneberg es nicht schafft, die Schulpflicht umzusetzen", meldete sich die grüne Schulausschussvorsitzende Martina Zander-Rade zu Wort. Zumal die Senatorin sich "noch zum Jahresende damit gebrüstet hatte, dass alle Kinder in Berlin einen Schulplatz erhalten". Auch dass nach jahrelanger Erfahrung mit der Beschulung von Kindern ohne Deutschkenntnisse immer noch kein Konzept vorliege, sei "ein unentschuldbares Versäumnis". Stattdessen sei darauf vertraut worden, dass die Zahlen zurückgehen, was allerdings nirgends belegt sei.

"Nun den schwarzen Peter und die Verantwortung den Schulleitungen zuzuschieben, die ohnehin trotz der unzumutbaren Arbeitsbelastungen jetzt schon alles möglich machen, grenzt an einen Offenbarungseid", findet Zander-Rade.

Und wie ist es in den anderen Bezirken?

Auch die bildungspolitische Sprecherin. der Grünen im Abgeordnetenhaus, Stefanie Remlinger, distanzierte sich vom Vorgehen des Schulamtes: "Statt die Schulen anzuklagen, sollten sich Senatorin Scheeres und Stadtrat Schworck mit den Schulleitungen an einen Tisch setzen und gemeinsam nach Lösungen suchen", fordert Remlinger. Zudem müsse die Senatsverwaltung alles dafür tun, zum Schulhalbjahr genug Lehrkräfte einzustellen, die in Willkommensklassen unterrichten könnten.

"Mithilfe des Senats muss eine Gesamtübersicht erstellt werden, inwieweit nur Tempelhof-Schöneberg ein solches Unterbringungsproblem hat", sieht Remlinger als nächsten Schritt. Solidarität zwischen einzelnen Schulen aber auch Bezirken könne jetzt genauso gefordert sein wie kreative Ideen.

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