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Die  drei Gedenktafeln für das ehemalige Zwangslager der Sinti und Roma befinden sich auf dem Parkfriedhof Marzahn am Wiesenburger Weg 10. Diese Tafel ist von 1991.

© Holger Hübner / www. Gedenktafeln-in-Berlin.

Schauplatz Berlin (Auflösung22): Das Lager am Rand der Stadt

Fast an jeder Ecke in Berlin hängt eine Gedenktafel, 2857 sind es insgesamt. Der Tagesspiegel bietet jede Woche ein Gedenktafel-Rätsel. Hier finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, die Auflösung zu unserer zweiundzwanzigsten Folge.

Heute gehört das damalige Dorf Marzahn, bei dem dieses Lager angesiedelt wurde, zu Berlin. Sein Terrain lag damals zwischen den Rieselfeldern, zu denen die Bauern mit Wagen voll Jauche gefahren kamen, die sie in Entwässerungsgräben pumpten. Berlin bereitete sich auf die Olympiade vor. Für die Sinti und Roma, eine ethnische Minderheit, die das Erscheinungsbild nicht stören sollte, wurde ab Mai 1936 ein Verbringungs-Camp, das die Behörden „Zigeunerrastplatz“ nannten, vorbereitet.

Bei einer Razzia, die am 16. Juli um vier Uhr früh startet, werden 600 Frauen, Männer, Kinder mit Lastwagen vor die Stadt geschafft. Auf dem friedhofsnahen Platz in Marzahn haben Erdarbeiten begonnen. Teils steht das Gras noch meterhoch, nun wird gemäht, umgegraben, planiert. Die Internierten, von der Kripo aus ihren Wohnungen und Arbeitsverhältnissen gerissen, hausen nun in herangeschafften Baracken des Reichsarbeitsdienstes und in eigenen Wohnwagen, wegen Raummangel zum Teil auch unter den Wagen. Jauchedunst weht über das Lager. Ungenießbar ist das Wasser in den neu gebohrten Brunnen. Zugefrorene Wasserstellen im Winter. Zwei Toiletten. Dramatisch ist die Hygienienesituation. 40 Prozent bekommen Krätze. Es verbreiten sich Scharlach, Diphterie, TB. Todesfälle und viele Neueinlieferungen, die Belegungszahlen steigen. Neben der Polizeibaracke mit Suchscheinwerfer: ein Krankenzimmer. Erbbiologische Untersuchungen werden durchgeführt. Aggressive Beamte als Wache, bissige Hunde zur Einschüchterung. Kein Zaun: Die Ablehnung der Insassen durch die denunziationsbereite Bevölkerung reicht. Nach Kriegsbeginn fliegen Granatsplitter von der Flakstation nebenan in die Unterkünfte. Für Besorgung von Lebensmitteln und zur Arbeit in der Kiesgrube, in Fabriken und zur Bombenräumung darf das Lager verlassen werden. Anfang März 1943 Jahren werden die meisten Bewohner in ein Vernichtungslager transportiert. Einige Familien erleben noch hier in Marzahn die Befreiung durch die Rote Armee 1945.

Der Ort dieser Sammelstelle wirkt immer noch abgelegen, trotz des S-Bahnhofs und der hohen Wohnblocks in der Nähe. Gleise und Schnellstraßen riegeln den Platz, der nach einem Deportierten, Otto Rosenberg, benannt ist, von Teilen des Quartiers ab: eine Sackgasse. Leere Gewerbekästen und ein katholisches Jugendhaus „Don Bosco“  stehen hier einander gegenüber. Auf dem historischen Fleck wurden im Jahr 2011 zehn Text-Foto-Stelen errichtet, die seine Geschichte dokumentieren. Drei dazugehörige Gedenktafeln befínden sich jedoch  nicht auf dieser historischen Parzelle, sondern fünf Minuten entfernt auf dem Parkfriedhof Marzahn: ein Findling von 1986, der neben dem Leiden der Eingesperrten „Befreiung durch die ruhmreiche Sowjetarmee“ erwähnt; eine Marmorplatte von 1990, deren Schrift  in Romanes endet mit den Worten (übersetzt) „Bleib mit Gott“; eine Bronzetafel mit ausführlicher Inschrift von 1991. Wer  hierhin gefunden hat, braucht nicht mehr viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie Ausgrenzung funktioniert.

Die nächste Folge von Schauplatz Berlin erscheint am kommenden Sonntag im gedruckten Tagesspiegel.

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