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Künstlerin Mia Florentine Weiss liebt die Gegensätze auf Stralau.

© Doris Spiekermann-Klaas

Stadtspaziergang auf Stralau: Zwischen Neubauten und Alternativwelt auf dem Wasser

Zu Friedrichshain gehört die Halbinsel Stralau, ein Refugium mitten in der Stadt. Hier arbeitet die Künstlerin Mia Florentine Weiss.

Die Liebe rostet auf dem Balkon. In der Rummelsburger Bucht hilft kräftiger Regen der gleichnamigen Skulptur zu einer schönen Patina. Der Hass sitzt noch in einem temporär freien Raum unter dem eigentlichen Atelier der Künstlerin, umgeben vom stechenden Geruch von Schweißarbeiten. Mia Florentine Weiss liebt Gegensätze so sehr, dass sie die Worte „Liebe“ und „Hass“ eingebrannt auf ihren Handgelenken trägt.

Kunst muss wehtun. Nicht immer so sehr wie beim Branding, das sie als Performance gestaltet hat. Manchmal tut Kunst auch gut. Das haben die „lieben Freaks“ erfahren, die in halb verfallenen Booten auf der Halbinsel Stralau nicht allzu weit von ihrem Atelier entfernt leben. Irgendwann fielen den Überlebenskünstlern die großen Überseekisten auf, in denen die Künstlerin ihre Werke vom Hudson an die Spree geschickt hatte. „From New York with love“ hatte jemand daraufgepinselt. Ob sie die nützen dürften, um sich ein Toilettenhäuschen zu bauen? Klar durften sie. Mia Florentine Weiß liebt auch den Gegensatz zwischen den saturiert wirkenden Neubauten, in denen hier vor allem Familien wohnen, und der Alternativwelt auf dem Wasser.

Die improvisierten Gehäuse stehen ganz am Anfang des Spaziergangs, der einen weiten Blick freigibt über die Rummelsburger Bucht. Nicht weit von den Hausbooten entfernt liegt ein grasgrünes kleines Holzschiff mit Außenbordmotor am Rande einer Anglerplattform. Damit kann man mal schnell ins Restaurant düsen, das auf der anderen Seite der Bucht liegt. Oder zum nächsten Supermarkt. Tolle Einkaufsmöglichkeiten gibt es nämlich nicht auf dieser stillen Halbinsel.

Die Sommeridylle wandelt sich im winterlichen Regen rasch in einen Matschweg und lässt die Romantik nur erahnen, die an lauen Abenden auf dem Weg zur Liebesinsel aufkommt. Was sich auf der Insel genau befindet? Die Künstlerin weiß es nicht. Vielleicht ist eine Projektionsfläche voller Vorstellungen auch fruchtbarer für Fantasie und Kunst. Vielleicht wird sie die Insel im Sommer erkunden, wenn sie das Boot neu gestrichen hat.

Leitmotive wie "Ecco Homo"

Es gibt jede Menge Neubauten auf Stralau, die richtig teuer aussehen. „Nicht zu bezahlen“, sagt Weiss und deutet auf einen gediegenen dunklen Block mit großen Fenstern. Dahinter taucht die kleine Dorfkirche auf. Die Turmuhr steht auf fünf vor zwölf. Das muss sie gleich fotografieren. Noch so eine Inspiration, die sie an ein früheres Werk erinnert.

Ein verwittertes Holzschild erzählt von der Geschichte der evangelischen Kirche, die von 1459 bis 1464 erbaut wurde und damit die älteste Kirche Friedrichshains ist. Auf dem Friedhof ringsum liegen die Gräber teils idyllisch am Wasser. Vor einer Urnenstätte gibt es eine Ablagefläche für Blumen, Bilder und andere Memorabilia. Auch hier funkt für Weiss Inspiration heraus.

Es gibt einige Leitmotive im Wirken der Künstlerin. „Ecce Homo“ zählt dazu, die Theodizee, die fragt, wie das Leiden in die Welt kommt. Gemeinsam mit Pro Asyl Frankfurt war sie für ein Projekt monatelang auf einer Flüchtlingsroute unterwegs. Da hat sie sich im Zeichen des geflügelten Pferdes Pegasus auch mit der Gleichberechtigung aller Menschen auseinandergesetzt.

Zwischen den vielen Neubauten auf dem Weg versteckt sich immer mal wieder ein schöner Altbau, weiß gestrichen und mit viel Stuck verziert. Die Schule findet sie besonders gelungen, weil der Altbau in einen neuen roten Backsteinbau integriert ist. Im Erdgeschoss eines halbrunden, von einem holländischen Architekten erbauten Wohnkomplexes befindet sich das einzige Geschäft der Insel, ein Tante-Emma-Laden, der offiziell „Back Nixe“ heißt, aber von allen nur „Eis Oma“ genannt wird, obwohl die Oma schon längst ihren Dienst quittiert hat und von einem Polizisten abgelöst wurde.

Innen kann man an Kaffeehaustischen Latte Macchiato trinken, und die Warenauswahl in den Regalen erzählt von den Notfällen, in denen man es nicht mehr bis zum nächsten Supermarkt geschafft hat. Zwieback steht neben Kamillentee, Toilettenpapier neben Papiertaschentüchern, Rotkäppchensekt thront im Kühlregal über Limoflaschen, und Raviolidosen gibt es natürlich auch. Mia Florentine Weiss hält eine Tüte Erdnusslocken hoch, ihre persönliche Notfallverpflegung, wenn nichts anderes mehr da ist. Weiter geht’s.

Das alte Speicherhaus am Südufer der Rummelsburger Bucht erinnert an die Zeit, als hier 1883 eine Palmkernöl- und Schwefelkohlenstofffabrik entstand. Heute steht vor dem denkmalgeschützten Gebäude ein Ensemble, von dem nicht ganz klar ist, ob es ein Spielplatz ist oder Kunst.

"Das Muttertier" dominiert den Raum

Der Spaziergang endet in ihrem Atelier, in dem sich unter zwei prächtigen Kronleuchtern Fundstücke und allerlei Trouvaillen befinden: Ein verlassenes Flüchtlingsboot, das sie am Strand in Griechenland entdeckt hat, steht in einer Vitrine so, dass man es nicht immer anschauen muss. Ihr Werk „Das Muttertier“ dominiert den Raum. Ein originaler Friedhofszaun aus Paris führt zu einer antiken Wendeltreppe.

Auf einer Art Grabstein steht: Love is where you are. „Mein Grabstein“, sagt sie leichthin. Eine Madonna mit Leuchtschwert und Schild hält ein Kind mit Männergesicht auf dem Arm, unter ihrem Gewand züngelt sich eine Schlange hervor. Und immer wieder das Kreuz, mal von einem Totenkopf gekrönt, mal mit einer Madonna dran, mal mit der Aufschrift „Love“. Aufgewachsen in Würzburg, hat sie Tilmann Riemenschneiders letzte Skulptur „Die Beweinung Christi“ fasziniert, das Spartanische in der Kunst als Kontrast zur barocken Pracht in der Residenz.

Überall finden sich Spuren ihrer großen Projekte „What is Your Place of Protection“, wo es um Orte der Geborgenheit geht, auch sieht man Zeugnisse der Pegasus-Reise. Das lebensgroße geflügelte Pferd hängt unter der Decke, auf den Flügeln haben Flüchtlinge persönliche Gegenstände befestigt, die den Weg vor ihnen schaffen sollten.

Auf die Frage nach dem Schutzraum hat sie ihre persönliche Antwort gefunden: der Uterus. Wenn man weiß, dass sie als Frühchen zur Welt kam und nur durch eine Operation gerettet werden konnte, ist das vielleicht kein Wunder. Vielleicht ist es aber auch zu einfach gedacht. In ihrem Atelier, so viel steht fest, könnte man stundenlang spazieren gehen, ohne sich sattzusehen.

Ausstellung, Galerie Friedmann-Hahn, in der Wielandstraße 14, Di–Fr 12–19 Uhr , Sa von 11–16 Uhr. Bis Ende Mai ist eine Variante ihres Love-Hate-Ambigramms am Siegestor in München zu sehen.

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