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Zeichensprache. An Belfaster Hauswänden werden Nordirlands paramilitärische Terrororganisationen immer noch glorifiziert.

© Cathal McNaughton/Reuters

Brexit: Nordirland und die Angst vor neuer Gewalt

Seit 20 Jahren leben Katholiken und Protestanten in Belfast in fragilem Frieden. Der nahende Brexit droht ihn zu zerstören.

Am friedlichsten, sagt der Mann, unter dessen Kommando dutzende, vielleicht auch hunderte Katholiken ermordet wurden, war es „während der Kämpfe“. Er sagt „Troubles“, was übersetzt kaum mehr bedeutet als „Probleme“ – ein Begriff, mit dem Nordiren die Jahrzehnte beschreiben, in denen fast 3600 Menschen ihr Leben ließen. Andy Tyrie, graues Haar, Schnauzbart, den sie hier in Belfast nur Onkel Andy nennen, grinst. „Nur ein Witz.“

Er sitzt an einem Viereck aus kleinen Kaffeetischen in Bells Tea & Coffee House, einem alten Café in der nordirischen Hauptstadt. Vor ihm „Fünf Teile Frittiertes“, wie man es in Belfast liebt, den „Herzinfarkt auf einem Teller“, so nennt das die Herrenrunde. Mit am Tisch sitzen sieben andere Männer, sie treffen sich jeden Samstag, frühstücken und reden über Politik. Viele von ihnen waren früher im Gefängnis.

Tyrie sagt, all das habe er hinter sich gelassen. „Wir leben ein normales Leben“, sagt er. „Wir haben hier verschiedene Meinungen – Protestanten und Katholiken. Das wird immer so bleiben. Aber das heißt nicht, dass wir uns wieder die Köpfe einschlagen.“

Seit 14 Monaten gibt es keine Regierung mehr

Sein Sitznachbar wiederspricht ihm. „Ich glaube sofort daran, dass es wieder losgeht“, sagt der hagere Mann im Jackett.

20 Jahre ist es her, dass sich Katholiken, die von einem vereinten Irland träumten, und Protestanten, die sich Großbritannien nahe fühlten, in einem am Karfreitag unterzeichneten Abkommen auf Frieden verständigten. Der nahende Brexit, fürchtet in Belfast nun nicht nur Tyries Sitznachbar, könnte alte Wunden wieder aufreißen. Weil er den Status Quo in Gefahr bringt, indem er eine Grenze hochzieht, wo es seit dem Friedensabkommen keine mehr gibt. Zwischen Nordirland – Landesteil des Vereinigten Königreichs – und der Republik Irland. Und damit die Frage nach einer nordirischen Identität neu stellt.

Wie fragil der Frieden war, den sie damals geschlossen haben, ist in der Stadt noch immer spürbar. Vor vielen Häusern ist die britische oder die irische Flagge gehisst, etwa 21 Kilometer lang sind die so- genannten „Friedenslinien“, Mauern, die Viertel und Überzeugungen voneinander trennen.

Der Osten ist protestantisch geprägt, der Westen geteilt, im Norden wechseln sich protestantische und katholische Straßen ab. Sie treffen sich an den „Bloody Corners“. Den „Blutigen Ecken“, wo die eine Seite wahllos auf die andere zielte und immer den „Richtigen“ traf. Bis 2023, das hatte die Regierung in Belfast versprochen, sollten die Mauern abgebaut werden. Doch seit 14 Monaten gibt es gar keine Regierung mehr.

„Gewalt hat nicht funktioniert“

Tyrie, heute 78 Jahre alt, war einst Kommandant der paramilitärischen Ulster Defence Association, kurz UDA. Er hat, behauptet er, Menschen überzeugen wollen, nicht wahllos zu töten. Seine eigene Truppe sah das irgendwann anders und setzte ihn 1988 ab. Einige Meter entfernt von Bells Café liegt ein Museum, das ihm und der UDA gewidmet ist: Das „Andy Tyrie Interpretive Center“. An den Hauswänden werden die Paramilitärs immer noch glorifiziert. „Prepared for peace, ready for war“, steht an einer der Wände: „Vorbereitet für den Frieden, bereit für den Krieg“.

Überzeugungstäter. Andy Tyrie ist für den Tod zahlreicher Katholiken verantwortlich. Das habe er hinter sich gelassen, sagt er heute.
Überzeugungstäter. Andy Tyrie ist für den Tod zahlreicher Katholiken verantwortlich. Das habe er hinter sich gelassen, sagt er heute.

© Milena Hassenkamp

Ja, das war damals, sagt Tyrie. Heute dächten die Leute anders. „Gewalt hat nicht funktioniert. Niemand will das wiederholen.“ Nur die Politiker versuchten den Brexit zu nutzen, „um ein bisschen tough zu klingen.“ Wieder ist sein Sitznachbar anderer Meinung. „Die Katholiken werden eine Grenze nicht akzeptieren. Sie werden sie niederreißen. Und die Protestanten werden es nicht ruhig aussitzen, wenn Irland vereinigt wird.“ Er war einmal Schulleiter. Und ist der einzige Katholik am Tisch.

Wo das Blut floss, stehen heute keine Denkmäler, sieht man nicht mehr, dass Schüsse und Bomben in trauriger Regelmäßigkeit Familien zerstörten. Bis Ende der 90er Jahre konnte kaum jemand in Belfast leben, ohne in den Kampf involviert zu sein. Viele haben Familienmitglieder und Freunde verloren.

Zwei Jahre dauerten die Gespräche

Glenn Bradley erinnert sich gut daran, wie das war, jeden Tag unter dem Auto nach einem Sprengsatz zu suchen. Bradley, 50, wenig Haar, ist im protestantischen Viertel Woodvale im Westen aufgewachsen. Wenige Meter von seinem Elternhaus entfernt, vor dem er jetzt steht, verlief eine der wichtigsten Trennlinien. „Da drüben war der Feind“, sagt er, streckt den rechten Arm aus, als könne er hinfassen. Inzwischen sind an die Stelle der Linie Einfamilienhäuser gebaut worden.

Die Matrix der Unionisten, die sich als Briten betrachten, sein Umfeld hat sie ihm schon als Kind eingebrannt. Als Soldat der britischen Armee und Mitglied der Ulster Unionist Party, UUP, saß Bradley mit am Tisch, als das Karfreitagsabkommen verhandelt wurde. Zwei Jahre dauerten die Gespräche. Seitdem will Bradley wieder aufbauen, was während der „Troubles“ zerstört wurde.

„Ich bin ich, du bist du. Wir sind nicht hier, um einander zu verletzen“, liest Glenn Bradley vor. Es ist eine Zeile eines Gedichts, das er geschrieben hat.

Er ist inzwischen in den Osten der Stadt gezogen, zu seiner Frau. Dort sind die Protestanten unter sich. „Da lässt es sich besser leben“, sagt er. In Woodvale ist Bradley jetzt nur noch zu Besuch, bei seinen Kindern und Enkelkindern.

Sie reden nicht mehr miteinander

Seine Mission ist der Frieden – und ein Sonderstatus für Nordirland in der EU. Das ist eine ungewöhnliche Haltung für einen Mann, der heute der protestantischen Democratic Unionist Party, DUP, angehört. Die will den Sonderstatus um jeden Preis vermeiden, weil sie eine wachsende Distanz zu Großbritannien fürchtet.

Obwohl Bradley Unionist ist, kann er nichts Gutes am Brexit finden. In einer zentralen Passage des Abkommens hielten beide Parteien 1998 fest, dass es nie wieder eine „harte Grenze“ zum Süden geben dürfe. Zwar hat Brüssel im Zuge der Brexit-Verhandlungen Grenzkontrollen, wie sie an den EU-Außengrenzen üblich sind, inzwischen ausgeschlossen, doch so richtig weiß niemand, wie eine andere Lösung aussehen soll. Grenze bleibt Grenze. Und eine Grenze wollen die Katholiken nicht.

Die beiden Parteien, die die Vereinbarung einst trafen, sind fast verschwunden. Ihre Nachfolger im Regierungssitz Stormont sind heute extremer – und in ihren politischen Positionen noch weiter voneinander entfernt.

Sie haben sich zerstritten über die Forderung nach einem Gesetz zur irischen Sprache, die die Katholiken in den Schulen gelehrt bekommen und auf Straßenschildern geschrieben sehen wollen, über Homosexuellenrechte und das Recht auf Abtreibungen. Sie reden nicht mehr miteinander. Übereinander aber umso mehr. Unterstellen einander „Gewaltandrohungen“, „zivilen Ungehorsam“.

Zuletzt starb ein Gefängniswärter

Viele Nordiren haben einander nicht vergeben. Und viele Katholiken glauben mehr denn je an ein vereintes Irland. Damals waren sie in der Unterzahl – mittlerweile halten sie sich mit den Protestanten fast die Waage. Manche Protestanten sagen über den Kinderreichtum katholischer Nachbarn: „Sie züchten sich eine Mehrheit heran.“

Lange Zeit war die EU-Mitgliedschaft ein Motor für den Frieden. Jetzt nutzen die, deren Herz pro Irland schlägt, den Brexit, um ihre Sache zu befeuern. In den vergangenen Jahren haben paramilitärische Racheakte wieder zugenommen: Zuletzt starb 2016 ein ehemaliger Gefängniswärter nach der Explosion einer Autobombe. In den Jahren davor gab es immer wieder Anschläge auf Polizisten.

Am Tisch in Bells Café schüttelt Andy Tyrie den Kopf. Er fühle sich verlassen von der britischen Regierung, sagt er, die seiner Meinung nach nie in Nordirland investiert hat. Deshalb hat er wie die Mehrheit der Nordiren für den Verbleib in der EU gestimmt: 56 Prozent wollten den Brexit nicht.

Tyrie fürchtet zunächst einmal wirtschaftliche Konsequenzen. Auch Glenn Bradley macht sich deswegen Sorgen. „Wir hängen hier voll und ganz von der EU ab – und der finanziellen Unterstützung, die sie uns im Friedensprozess hat zukommen lassen.“ Bis 2020 wird die EU etwa 1,5 Milliarden Euro investiert haben.

Ein paar neue Häuser, ein paar Friedenscenter

Nach dem Ende des Konflikts war die Infrastruktur der Nordiren zerstört: Stromnetz und Fernverkehr waren immer wieder bombardiert worden und weitgehend zerstört, ein Großteil des Wiederaufbaus wurde aus EU-Töpfen bezahlt.

Großbritannien, sagt auch Bradley, hat wenig für Nordirland getan. Ein paar neue Häuser, ein paar Friedenscenter, in denen beide Seiten zusammenkommen sollen, aber was würden die schon helfen, wenn das Wasser knapp wird, weil marode Leitungen nicht repariert werden können. „Als wir den Vertrag aushandelten, waren wir berauscht vom Frieden“, sagt Bradley. „Wir haben nicht genug darauf geachtet, dass wir Großbritannien mit in den Wiederaufbau einbeziehen.“

Dazu kommt: Nur dank der EU können viele Bauern in Nordirland überhaupt existieren. Viele Höfe sind von Subventionen abhängig, sagt Bradley. Auch wenn Großbritannien deren Wegfall kompensieren will: EU-Außenzölle könnten viele Betriebe in den Ruin drängen. Fast jedes zweite nordirische Schaf wird derzeit in die EU verkauft. Was, wenn die künftig durch Importe aus den USA und Neuseeland ersetzt werden?

„Hier bauten Iren einst das unsinkbare Schiff!“

Bradley hofft auf den Tourismus. Denn sein Land ist nicht nur Heimat der „Troubles“. Er ist ins Hafenviertel geradelt, „Hier bauten Iren einst das unsinkbare Schiff!“ Das dann gegen einen Eisberg stieß und sank. Die Titanic, das seinerzeit größte Schiff der Welt, erschaffen in einem der größten Docks der Welt. Und das alles in seiner, Bradleys Heimatstadt.

Stolz ist er auch darauf, was nun hier entsteht – und an dem er seinen Anteil hat. Bradleys Firma hat portugiesischen Pflasterstein für das neue „Titanic-Viertel“ importiert, es soll Besucher nach Belfast locken.

Hier, bei den Docks, war der ehemalige Soldat einst stationiert. Nachts sorgte er dafür, dass Protestanten und Katholiken sich nicht gegenseitig abschlachteten. Oder versuchte es zumindest.

Noch kommen die meisten Besucher, um die Spuren des alten Konflikts zu besichtigen. Auch an diesem Tag springen wieder Touristen aus schwarzen Taxen, machen mit ehemaligen Gefängnisinsassen Selfies vor der Friedensmauer.

Das Misstrauen hat er von seinen Eltern geerbt

Daneben sprayen zwei junge Männer Buchstaben an die Wand. „Es ist nichts Politisches“, sagt einer von ihnen, „nur Buchstaben.“ Er ist Katholik und steht auf der protestantischen Seite der Mauer, ist auf eine protestantische Schule gegangen, hat gemeinsam mit Protestanten gesprayt. Als Kind durfte er nur zu Hause das Trikot seines katholischen Fußballvereins tragen. Bis heute besucht er keine protestantischen Pubs, „weil man da als Katholik vermöbelt wird.“

Er ist 22, kennt nur den Frieden, die „Troubles“ allein aus Erzählungen und Büchern. Doch das Misstrauen gegenüber den anderen, er hat es von seinen Eltern geerbt. „Du weißt nie, wer gerade zuhört.“

Am Hafen schwingt sich Glenn Bradley wieder auf sein Rad. Lässt den Blick schweifen. „Wir könnten das Tor zu Europa sein“, sagt er. Für den Fall, dass es anders kommt, Nordirland kein Sonderstatus zugestanden wird, hat er bereits einen Firmensitz in Irland einrichten lassen. „Ich bin nicht der Einzige“, sagt er.

Milena Hassenkamp

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