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Unstimmigkeiten zwischen Kanzlerin Angela Merkel und den Ministerpräsidenten.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Dann macht’s halt ohne mich: So liefen die Verhandlungen zwischen Merkel und den Ländern

Die Bundeskanzlerin überlässt den drängenden Ministerpräsidenten in der Coronakrise die Verantwortung. Fürs Erste.

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Die Seuchenforschung kennt das Phänomen schon lange als das Präventionsparadox, aber man kann es auch weniger kompliziert ausdrücken. „Wir werden Opfer unseres eigenen Erfolgs“, stöhnte dieser Tage einer aus der Bundesregierung. Aus dem Ausland schauen viele neidisch darauf, wie die Deutschen die Coronapandemie in den Griff bekommen.

Doch je besser das gelingt, umso mehr finden Zweifel Gehör, ob das Eindämmen überhaupt noch nötig ist. Angela Merkel hat lange versucht, sich dem Paradox zu widersetzen. Am Mittwoch gibt die Kanzlerin vorläufig auf. Die Ministerpräsidenten wollen lockern, lockern, lockern – dann sollen sie’s eben tun, aber auf eigene Rechnung.

Länderfront wurde vor einer Woche brüchig

Die Kehrtwende begann vor einer Woche, berichtet einer aus dem sozialdemokratischen Regierungslager. In die letzte Bund-Länder-Schalte am vorigen Donnerstag platzte eine Eilmeldung: Nordrhein-Westfalen werde ab 11. Mai alle Grundschüler tageweise in die Schulen lassen.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) soll aufgestöhnt haben: „Armin, schon wieder ihr!“ NRW-Chef Armin Laschet pfiff später seine vorgepreschte FDP-Schulministerin zurück. Die Länderfront hatte bis dahin von Kiel über Düsseldorf bis München einen bemerkenswert gleichen Kurs verfolgt. Doch jetzt wurde sie ernsthaft brüchig.

Für Merkel bedeuten enorme Vertrauenswerte enorme Verantwortung

Die Gründe sind nachvollziehbar. Nach fünf Wochen Homeoffice oder Kurzarbeit für viele, geschlossenen Geschäften, verwaisten Fabriken und leeren Hotels steigen die Schäden und wächst der Druck von Tag zu Tag. Dazu kommt, dass in vielen Regionen nur noch wenige Coronafälle auftreten und die Kliniken weit vom Zusammenbruch entfernt sind.

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Merkel blieb trotzdem vorsichtig. Sie nahm die Warnungen der Fachleute immer ernst, die Erfolge nicht leichtsinnig zu verspielen. Sie war sich auch, sagen Leute, die sie kennen, immer bewusst, dass die enormen Vertrauenswerte in den Umfragen zugleich eine enorme Verantwortung bedeuten. Die Menschen, deren Mitwirkung so wichtig sei, sollten kein falsches Signal bekommen. Vor allem deshalb habe die Kanzlerin im Bundestag vor zu forschen Lockerungen gewarnt.

Zu Beginn konnte sich die Kanzlerin noch durchsetzen

Doch der Druck der Länder stieg. Merkel konnte zuletzt noch durchsetzen, nach der ersten Lockerungsrunde drei Wochen lang abzuwarten. Erst dann ließen sich Auswirkungen dieser ersten Runde in den Daten ablesen. Erst dann zeigt sich, ob das Experiment gelingt.

Als nach dem ersten Mai-Wochenende die Zahlen aber tatsächlich bundesweit weiter sinken, ist in den Landeshauptstädten kein Halten mehr. Diesmal prescht Sachsen-Anhalt vor. Das Land hatte von Anfang an viel weniger Fälle als etwa Bayern. Dafür muss Rainer Haseloffs CDU im nächsten Sommer in eine schwere Landtagswahl. Doch auch Markus Söder in München nimmt Witterung auf. Der CSU-Chef präsentiert forsch einen „Bayernplan“.

Verhandlungen waren "wie ein Damm, der bricht"

„Das muss man sich wie einen Damm vorstellen, der bricht“, sagt eine mit den Verhandlungen vertraute Person. „Du kannst dich vor den Damm stellen – oder du trittst zur Seite, um nicht weggespült zu werden.“ In den Vorbereitungsrunden zu dem Mittwochstreffen mit Kanzleramtschef Helge Braun gab es von verschiedenen Seiten Kritik – einerseits am Bund, andererseits am Vorpreschen der Länder. Braun beschwerte sich seinerseits energisch über Durchstechereien und Indiskretionen aus den internen Beratungen. Doch am Ende trat Merkel vor der Flutwelle zur Seite.

Allerdings nicht allzu weit. Am Mittwoch verkündet sie im Kanzleramt die jüngsten Beschlüsse. Die Länder legen künftige Öffnungsschritte im Großen und Ganzen selber fest. Doch Merkel hat eine zweite Deichlinie gebaut. Die sei ihr wichtig, sie sagt sogar, „maßgeblich“ für die nächste Zeit. Die Zahlen seien sehr erfreulich, sie sie froh, dass das gelungen sei. „Wir können uns ein Stück Mut leisten“, sagt die Kanzlerin. „Aber wir müssen vorsichtig bleiben.“

Die Gefahr ist noch nicht gebannt

Söders Satz vom Vortag, man habe „Corona unter Kontrolle“, will Merkel denn auch nicht zustimmen: „Das ist eine Momentaufnahme.“ Die Gefahr sei alles andere als gebannt, die Pandemie nach wie vor erst am Anfang und nur die „allererste Phase“ sei absolviert. Söder selbst klingt auch nicht mehr so forsch. Ein „leichtes Aufatmen“ sei erlaubt, aber „Vorsicht und Umsicht“ blieben notwendig, kein „Schnellgang“ im Öffnen und Lockern.

Dass dabei etwas schief geht, soll der „Notfallmechanismus“ verhindern, wie Merkel ihre zweite Deichlinie gegen die zweite Welle nennt: Steigen in Landkreisen oder kreisfreien Städten die Neuinfektionen über 50 pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche, soll es sofort wieder Beschränkungen geben. Die können dann vielleicht nur lokal notwendig sein.

Wie sie denn sicherstellen wolle, dass alle sich an den Notfallmechanismus halten, wird Merkel bei der Vorstellung der Beratungsergebnisse von einem Journalisten gefragt. Sie schaut ihn irritiert an. So weit geht das Gerangel mit den Länderfürsten ja nun wirklich nicht. Wenn man auf die Landräte, Bürgermeister, Gesundheitsämter, Ministerpräsidenten nicht mehr vertrauen könnte, „das ist dann nicht unsere Bundesrepublik Deutschland“.

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