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Bewusst ökologisch: Viele alternative Initiativen sorgen sich um die Natur und wollen der dominanten Konsumgesellschaft etwas entgegensetzen. Das Foto zeigt ein Urban-Gardening-Projekt auf dem Tempelhofer Feld in Berlin.

© picture alliance/Jörg Carstensen

Ernährung & Gender: Wenn der Widerstand durch den Magen geht

In einem neuen Forschungsprojekt werden Initiativen untersucht, die einen bewussten Umgang mit Nahrungsmitteln fördern.

Krummes Gemüse hat keinen guten Ruf bei den Kunden im Supermarkt. Die Käufer verschmähen es, die Märkte werfen es in die Tonne. Gegen die Lebensmittelverschwendung in der globalisierten Welt wenden sich Initiativen wie „The Real Junk Food“ in Berlin. Ihre Mitglieder bereiten aus weggeworfenem Obst und Gemüse – also aus „echtem Müll-Essen“ – Mahlzeiten zu und laden Interessierte zum gemeinsamen Mahl ein.

Menschen, die sich solchen Bewegungen anschließen, sorgen sich um die begrenzten Ressourcen der Natur und wollen der mächtigen Konsumgesellschaft etwas entgegensetzen. Finden sich aber auch in solchen ökologisch bewusst agierenden, alternativen Initiativen verborgene Machtstrukturen? Wenn das Private – Lebensmittel besorgen, zubereiten, essen – öffentlich wird und zu etwas Gemeinschaftlichem, verändert sich dann die klassische Rollenaufteilung, zum Beispiel zwischen Frauen und Männern? Und führen solche Initiativen zu mehr sozialem Zusammenhalt in einer Stadt? Diese Fragen stellt sich Gülay Çaglar, Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Gender und Vielfalt an der Freien Universität Berlin, mit ihrem Team in einem neuen Forschungsprojekt.

Ihr Projekt ist eingebettet in das große europäische Forschungsnetzwerk WEGO; die Abkürzung steht für Well-being, Ecology, Gender and cOmmunity – Wohlergehen, Ökologie, Gender und Gemeinschaft. Ziel ist es, junge Doktorandinnen und Doktoranden zu fördern. Zehn Forschungsinstitute und Universitäten in fünf EU-Ländern vergeben insgesamt 15 Promotionsstellen. Die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler werden in das strukturierte Forschungsnetz eingebunden, werden an Weiterbildungen teilnehmen und kurze Forschungsaufenthalte an einem der Partnerinstitute innerhalb des Netzwerks verbringen.

Sie arbeiten an eigenen Projekten, die alle eines gemeinsam haben: Sie sollen den Ansatz der Feministischen Politischen Ökologie weiterentwickeln. Mit diesem Ansatz wird hinterfragt, wie Menschen mit natürlichen Ressourcen umgehen und wer überhaupt über die Möglichkeiten verfügt, ökologisch ressourcenbewusst zu handeln. Das Gesamtprojekt wird durch die Europäische Union gefördert, „aber die einzelnen Projekte beziehen unter anderem auch den globalen Süden mit ein, das ist das Schöne daran“, sagt Gülay Çaglar.

"Essen ist etwas sehr Banales – und trotzdem hochpolitisch"

Die Professorin für Politikwissenschaft hat bereits zu Fragen der Ernährung gearbeitet. Im Fachgebiet Gender und Globalisierung an der Humboldt-Universität zu Berlin untersuchte sie am Beispiel von Kenia die politische Bedeutung von heimischem Blattgemüse. „Essen ist etwas sehr Banales und Alltägliches – und trotzdem hochpolitisch. Menschen zeigen damit, dass sie in ihrem Alltag in gewisser Weise Widerstand leisten können, zum Beispiel gegen die Einfuhr von billigem Gemüse, die die Landwirtschaft im eigenen Land zerstört. Als Politikwissenschaftlerin interessiert mich dieses Alltägliche als Widerstandspolitik.“

Viele Menschen haben nach Ansicht der Forscherin zunehmend den Eindruck, die Ernährungsindustrie versuche in erster Linie Gewinne zu maximieren. Daraus resultierende Lebensmittelskandale und eine grundsätzliche Kritik an der globalen Ernährungspolitik ließen sie nach alternativen Wegen suchen. Die Bewegungen sind divers, sie reichen von Massendemonstrationen wie „Wir haben es satt!“, über Foodsaving-Gruppen bis hin zu Restaurants, in denen krummes Gemüse verkocht wird. Als Wissenschaftlerin beobachtet Gülay Çaglar diese Alternativen allerdings auch kritisch. Manche vermeintlich ökologische Initiative sei weniger ressourcenschonend als sie vorgebe. In Kleingärten zum Beispiel komme es häufig zu einer Überdüngung der Böden. „Darüber hinaus können alternative Projekte, die eine regionale Nahrungsmittelproduktion und den Konsum regionaler Produkte fördern, protektionistische Wirkungen entfalten. Das wiederum kann andere Ungleichheitsverhältnisse verstärken und muss deshalb kritisch untersucht werden“, sagt Gülay Çaglar.

Ökologische Projekte sind nicht zwingend sensibler für Ungleichheit

Diese kritische Untersuchung soll der oder die Promovierende im Teilprojekt des WEGO-Netzwerks durchführen, anhand von Fallbeispielen in Berlin und Barcelona. In beiden Städten gebe es viele Gruppen und Initiativen, die sich für einen bewussteren Umgang mit Essen einsetzten, beispielsweise „Urban gardening“, „Solidarische Landwirtschaft“ oder „Küchen für Alle“, sagt Gülay Çaglar. Zudem lebten in beiden Städten auch viele Migranten. Gute Bedingungen also, um die Verhältnisse nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen zu erforschen. Denn solche ökologischen Gemeinwohlprojekte seien nicht zwingend sensibler für Ungleichheitsverhältnisse, sagt die Politikwissenschaftlerin.

Am Anfang des Forschungsprojekts stehen ganz praktische Fragen: Wer kocht, wer schneidet, wer verteilt das Essen? Daraus ergeben sich grundsätzlichere, sozialpolitische Fragen: Wenn gemeinsames Kochen ökonomisiert wird, ändert sich dadurch die Geschlechterordnung? Welche Machtverhältnisse wirken dort? Um das zu untersuchen, sollen Methoden der qualitativen Sozialforschung zur Anwendung kommen. Die Initiativen werden ethnografisch beobachtet, und es werden Interviews mit allen darin Eingebundenen geführt. „Wenn wir ins Feld gehen, werden wir vielleicht sehen, dass die Beteiligten ganz andere Beweggründe haben, als wir dachten. Vielleicht wollen sie ganz einfach nicht alleine sein, oder sie möchten nur zusammen kochen“, sagt Gülay Çaglar.

Schlussendlich soll das Projekt erforschen, ob und wie solche Initiativen zu mehr gesellschaftlicher Inklusion führen. Gülay Çaglar möchte damit auch einen Beitrag zur Food Citizenship leisten – der Idee, dass Bürgerinnen und Bürger nicht nur Essen konsumieren, sondern ihrem Essen gegenüber genauso Rechte und Pflichten haben wie gegenüber ihrem Staat. Von einer Food Citizenship würde also auch die verschmähte krumme Möhre im Supermarkt profitieren.

Anne-Sophie Schmidt

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