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Paula Benedict (links) und Malin Ebersbach arbeiten mit am Projekt „FU Law Clinic Post-Conviction“.

© Bernd Wannenmacher

Fehlurteile sind möglich: Wie ein Strafrechtsprofessor Schwächen im Justizsystem aufdeckt

Im Zweifel für den Zweifel: Carsten Momsen arbeitet an Wiederaufnahmeverfahren – mit Unterstützung von Studierenden der Freien Universität.

Von Dennis Yücel

Am 19. Juli 2011 wurde Herr D. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht kam zum Schluss, dass der damals 41-Jährige zwei Jahre zuvor seine Nachbarn im hessischen Babenhausen erschossen hatte. D., der seitdem in Haft sitzt, bestreitet bis heute seine Schuld – und tatsächlich melden Fachleute immer wieder Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Urteils an. Seit vielen Jahren wird D. von Gerhard Strate vertreten, einem der bekanntesten Strafverteidiger Deutschlands.

Nun prüfen Jura-Studierende der Freien Universität Berlin, ob sie in dem Fall unterstützen können. „Wir sehen derzeit die Akten durch und suchen nach Ansatzpunkten, um den Fall erneut vor Gericht zu bringen“, sagt Paula Benedict, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie betreut den Fall im Rahmen der „FU Law Clinic Post-Conviction“ gemeinsam mit zwei Anwälten und einem studentischen Team – drei derzeitigen Jura-Studentinnen und zwei ehemaligen Studierenden. 

Die „FU Law Clinic Post-Conviction“ ist das deutschlandweit erste Projekt, in dem sich Jura-Studierende neben Fragen des Strafvollzugs nach amerikanischem Vorbild mit möglichen Fehlurteilen beschäftigen. Dort, wo sie Justizfehler vermuten, streben sie ein sogenanntes Wiederaufnahmeverfahren an. In Zusammenarbeit mit Anwälten recherchieren sie in den Akten, schreiben Schriftsätze und Beweisanträge und sind bei den Hauptverhandlungen dabei, wenn es zu einer Neuverhandlung kommt.

„Im Fall D. überprüfen wir derzeit zwei der dem Urteil zugrunde liegenden Indizien, die wir für angreifbar halten“, sagt Malin Ebersbach, die sich in der „Law Clinic“ ehrenamtlich engagiert. „Wir wollen mit Zeugen sprechen und recherchieren forensische Verfahren.“

Selbst wenn nur ein Prozent der Urteile sich als Fehlurteile herausstellen, sind das Tausende zu Unrecht verurteilte Menschen.

Carsten Momsen, Professor für Strafrecht an der Freien Universität Berlin

Gegründet wurde die „FU Law Clinic Post-Conviction“ vor zwei Jahren von Carsten Momsen, Professor für Strafrecht, und Kirstin Drenkhahn, Professorin für Kriminologie an der Freien Universität. Sie ergänzt die „FU Law Clinic – Praxis der Strafverteidigung“, an der Studierende sich bereits seit 2016 mit erfahrenen Anwälten an echte Fälle machen.

„Die Studierenden lernen dort die Anwaltstätigkeit praktisch kennen“, sagt Momsen. „Sie lernen, das Recht nicht nur objektiv zu begutachten wie im Studium, sondern im Interesse ihrer Mandanten.“ Zugleich können die Studierenden mit ihrer Arbeit einen wirkungsvollen Beitrag leisten und Kanzleien deutschlandweit unterstützen. In der „Law Clinic – Praxis der Strafverteidigung“ reiche das Spektrum von Ordnungswidrigkeiten bis hin zu Mord und Totschlag, sagt Momsen. Unter anderem seien Studierende an den Prozessen über die Katastrophe bei der Love Parade 2010 beteiligt gewesen.

Mit seiner Arbeit will Carsten Momsen die Debatte um Fehlurteile und Wiederaufnahmeverfahren in Deutschland anregen.

© privat

Die Post-Conviction-Clinic befasst sich mit der Betreuung von Fällen im Strafvollzug und im Wiederaufnahmeverfahren, hier geht es vor allem um schwere bis sehr schwere Straftaten. „Es sind vor allem Tötungs- und Sexualdelikte“, sagt Carsten Momsen. „Aber auch Fälle von schwerem Raub, Wirtschaftskriminalität oder Geheimnisverrat.“

Im Rahmen des Projekts arbeitet die Freie Universität Berlin mit dem Verein „Fehlurteil und Wiederaufnahme e. V.“ zusammen, den der Rechtswissenschaftler mitgegründet hat. An diesen Verein können sich Menschen wenden, die sich zu Unrecht verurteilt sehen. Eine Gruppe von Studierenden macht sich dann gemeinsam mit Anwälten an die Vorprüfung. „Wir sehen uns das Urteil und seine Entstehungsgeschichte genau an“, sagt Carsten Momsen, „und untersuchen, ob da etwas falsch gelaufen sein könnte – so wie eben im Fall D.“ Rund 120 Menschen haben sich in den vergangenen zwei Jahren an den Verein gewendet. Davon konnte bislang rund die Hälfte geprüft werden.

Auch Sachverständige können sich irren

Mit seiner Arbeit will Carsten Momsen auch die Debatte um Fehlurteile und Wiederaufnahmeverfahren in Deutschland voranbringen. „Das Justizsystem arbeitet in Deutschland in der Regel gut“, sagt er. „Doch selbst wenn nur ein Prozent der Urteile sich als Fehlurteile herausstellen, sind das Tausende zu Unrecht verurteilte Menschen.“ Der Jurist nennt vor allem drei Gründe, warum es in Verfahren zu gravierenden Fehlern kommen kann. Eine Ursache könnten etwa methodisch schwache Gutachten von Sachverständigen sein. „Einige Gerichte verlassen sich gerne auf Sachverständige, die sie gut kennen“, sagt Carsten Momsen. „Das sind aber nicht immer die, die sich auch am besten auskennen oder mit den neuesten Methoden arbeiten.“

Auch in reinen Indizienverfahren oder Prozessen, die auf einer einzigen Zeugenaussage beruhen, könne es vermehrt zu Fehlern kommen, sagt Carsten Momsen. In den Akten achte er besonders darauf, wie viele der von der Staatsanwaltschaft gesammelten Beweisstücke oder Zeugenaussagen im Prozess tatsächlich Verwendung finden. „Wenn es nur wenige sind, dann liegt der Verdacht nahe, dass das Gericht womöglich schon vor dem Prozess von der Schuld des Angeklagten überzeugt war“, sagt Carsten Momsen.

Schließlich käme es in besonders komplizierten Verfahren manchmal auch schlicht zu einer Überarbeitung der Gerichte, vor allem in großen Wirtschaftsprozessen. „Das sind Tausende Seiten an Akten mit zum Teil hochkomplexen Sachverhalten“, erläutert der Jurist. „Wenn das Gericht hier nicht ausreichend Zeit und Personal zur Verfügung hat, ist das ein außerordentliches Problem.“

Auch im Fall D. handelte es sich um einen reinen Indizienprozess. „Es gibt eine Reihe von Ungereimtheiten“, sagt Paula Benedict. „Doch ob es wirklich für ein Wiederaufnahmeverfahren reicht, wird sich erst nach einer monatelangen Prüfung zeigen.“

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