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Gerhard Richter vor einem seiner abstrakten Gemälde in Dresden.

© David Pinzer

Gerhard Richter in der Neuen Nationalgalerie: Hundert Werke von Deutschlands Künstler Nummer eins

Noch ist das Museum des 20. Jahrhunderts eine Baustelle. Aber im Mies-van der-Rohe-Bau nebenan zeigt die Stiftung Gerhard Richter bereits ihren Beitrag für das neue Haus.

Der „Birkenau“-Zyklus hat schon diverse Stationen hinter sich: New York, Dresden, Baden-Baden und nach dem Zwischenstopp vor zwei Jahren auf der Museumsinsel jetzt wieder Berlin. Doch diesmal soll das bedeutende Werk von Gerhard Richter bleiben. Im ehemaligen Grafiksaal der Neuen Nationalgalerie ist es seinem künftigen Bestimmungsort, dem Museum des 20. Jahrhunderts, das gerade auf dem Nachbargrundstück entsteht, schon sehr nahe gerückt.

Mit der Ausstellung „100 Werke für Berlin“ schlägt die Gerhard Richter Stiftung endgültig in der Hauptstadt auf, genau dort wo sich die Kunst ihrer bleibenden Werte versichert, nicht zuletzt auch des nationalen Kulturguts. Herzstück der kleinen und doch großen Richter-Ausstellung ist der „Birkenau“-Zyklus, der 2014 zur Gründung der Stiftung führte. Der Künstler wollte das Ensemble auf keinen Fall dem Markt überlassen, sondern ihm einen Platz in der Öffentlichkeit sichern, zumal in Deutschland, nachdem zwanzig Jahre zuvor das New Yorker Museum of Modern Art seinen RAF-Zyklus erworben hatte.

Im Untergeschoss der Neuen Nationalgalerie sind die vier hochformatigen Gemälde enger zusammengerückt, auf denen Richter die aus dem Konzentrationslager Birkenau von Häftlingen geschmuggelten Fotografien so weit mit dem Rakel vermalte, dass nur noch farbige Schlieren und aufbrechende Schichten zu sehen sind.

40 x 30 cm Abstraktes Bild aus dem 2016 von Gerhard Richter.

© 300 dpi/Gerhard Richter 2023

Abstraktion versus Gegenständlichkeit oder vielmehr die Ergänzung von beidem sind Richters künstlerisches Lebensthema. Wie schon im Schinkelsaal der Alten Nationalgalerie vor zwei Jahren hängen gegenüber den Gemälden vier große graue Spiegel, die nicht nur die Bilder, sondern auch den Betrachter reflektieren, ihn gleichsam ins Zentrum der Auseinandersetzung rücken. Lässt sich nach Auschwitz musizieren, Gedichte schreiben? Und lässt sich der Holocaust selbst darstellen?

An den Schmalseiten des Raums finden sich erneut die Reproduktionen jener vier Schwarzweiß-Aufnahmen, die Ausgangspunkt für Gerhard Richter waren: verwackelt, unscharf, und doch sind nackte Leichname, KZ-Aufseher zu erkennen, die über am Boden liegende Körper steigen.

Von diesem spannungsreichen, künstlerisch wie intellektuell hoch aufgeladenen Raum aus lässt sich Richters Firmament vermessen, das eine über sechzigjährige Schaffenszeit umfasst. Politisches und Privates, Konzeptuelles und jüngste malerische Etüden wie in der „Mood“-Serie von 2022 mit Glasmalfarben auf Papier, Schwarzweiß und Explosion der Farben – die Vielgestaltigkeit und Offenheit im Werk des heute 91-Jährigen sucht ihresgleichen.

Auch deshalb gilt der Maler als bedeutendster deutscher Künstler der Gegenwart, der seit über zwanzig Jahren auf Platz eins internationaler Ranking-Listen steht. Wie kein anderer durchforstet er mit seinem Schaffen auch persönliche Betroffenheiten: „Tante Marianne“ aus dem Familienalbum als junges Mädchen, das später dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer fiel, hängt hier in verwischtem Schwarzweiß mit Klein-Gerhard als Baby im Arm gleich neben „Onkel Rudi“ in Wehrmachtsuniform.

Die erste Schau in der Neuen Nationalgalerie ist ein Anfang, fortan soll es Modifikationen geben, kommen andere Kurator:innen, andere Künstler:innen ins Spiel, bis das Richter-Konvolut ins fertiggestellte Museum des 20. Jahrhunderts überwechseln kann. Inzwischen ist von 2028 als Einzugsjahr die Rede, womit das erste Drittel der zunächst auf 15 Jahre anberaumten Dauerleihgabe-Frist schon verstrichen wäre. Doch von finalen Daten, Jahresdaten möchte Joachim Jäger als stellvertretender Direktor lieber nichts hören.

Richter ist und bleibt ein fester Baustein für das künftige Museum. Neben Joseph Beuys, Rebecca Horn und Sarah Morris wird ihm ein „anchor room“ gewidmet sein, der prominent aus der Fassade des Baus von Herzog de Meuron gen Philharmonie herausragt. Seine Strahlkraft entfaltet er schon jetzt durch die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie.

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