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Titus Dittmann (70) findet Politiker, die das Schuleschwänzen für den Klimaschutz akzeptieren, "zum Kotzen".

© Ina Fassbender/dpa

Interview mit Titus Dittmann: „Als abschreckendes Beispiel war ich gefragt“

Er schmuggelte Skateboards nach Deutschland und inspirierte Generationen. Titus Dittmann über ADHS, 50 Jahre mit Brigitta und die Freundschaft mit seinem Sohn.

Herr Dittmann, Sie sind Extremsportler. Was waren Ihre schlimmsten Verletzungen?

Zwei, drei Mal hat es mich übel erwischt. Ich bin mit einem falsch eingestellten Drachen aus 20 Metern ungebremst auf den Boden geknallt. Meine Zähne hatten die Oberlippe durchschnitten und mir fehlte ein kompletter Tag Erinnerung. Bei einem Autorennen brach ich mir den Arm. Ich wollte meinen Gurt aufmachen, und als ich dachte, ich wäre mit der Hand am Gurtschloss, war da keine Hand. Die baumelte woanders.

Sie haben sich Halfpipes runtergestürzt, waren einer der ersten Windsurfer, ein Pionier im Drachenfliegen, sind Autorennen gefahren. Sind Sie lebensmüde?

Im Gegenteil: Mich reizt das Bewusstsein, in einem Grenzbereich alles im Griff zu haben, den die wenigsten kontrollieren können.

Mit dem Skateboard haben Sie sich nie ernsthaft verletzt. Sind Sie da weniger an Ihre Grenzen gegangen?

Das sieht heftig aus, dabei ist das Risiko gar nicht so groß. Aber weil die Gefahr so visuell ist, fährt man konzentrierter. Wenn einer in drei Metern Höhe an einer Halfpipe steht und reindroppt, dann weiß der ganz genau, was er da macht.

Sie haben in den 80ern im Alleingang die Skateboard-Szene in Deutschland aufgebaut, ein eigenes Modelabel gegründet, gingen fast pleite , kamen wieder zurück. Jetzt sind Sie 70 Jahre alt. Fühlt es sich auch so an?

Ich weiß, dass ich ein alter Sack bin und bin stolz darauf. Mein 30. Geburtstag dagegen war ein Problem. Ich dachte, jetzt gehöre ich zu jenen, denen man nicht mehr trauen kann. Mit jeder Null, 40, 50, 60, 70 wurde das Leben geiler. Keiner hatte mir was zugetraut, doch ich habe immer bewiesen, ich habe auch was drauf!

Wer hat an Ihnen gezweifelt?

Das ging schon in der Schule los. Ein Lehrer hat mich mal nach vorn geholt, vor die Klasse gestellt und gesagt: „Kinder, passt auf – wenn aus euch im Leben nichts werden soll, müsst ihr nur sein wie der Titus.“ Als abschreckendes Beispiel war ich gefragt.

Hatte der Lehrer einen Grund dazu?

Ich fand die meisten Fächer langweilig und konnte mich deshalb nicht konzentrieren, galt als Störenfried. Aus Füller und Lineal baute ich Flugzeuge und stellte Luftkämpfe aus dem Ersten Weltkrieg nach. Ich war zwei Piloten, habe mich selbst mit einem Looping überrascht. Dann knallte es irgendwann wirklich, ich bekam vom Lehrer eine geschossen und fiel vom Stuhl. Aber ich wusste: Um zwölf Uhr ist die Schule aus und der Terror vorbei. Mittlerweile weiß ich, dass ich seit Kindesbeinen ADHS habe.

Kinder und Jugendliche mit der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung können kaum still sitzen, sind leicht abgelenkt und aufgedreht. Wie äußert sich das bei Ihnen?

Ich spiele Pingpong im Kopf und bin manchmal schon zehn Gedankengänge weiter als andere. Inzwischen nehme ich Ritalin. Meiner Frau und meinen Mitarbeitern zuliebe. Mit ADHS hast du zwar viel Energie, gehst aber auch schnell durch die Decke.

Haben Sie heute Morgen Ritalin genommen?

Ja. Ich habe mir gedacht, zwei Stunden Interview, schmeiß dir eine ein.

Heute veranstalten Sie selbst Skateboard-Workshops für Kinder und Jugendliche mit der Störung.

Meine Stiftung organisiert „Skaten statt Ritalin“ seit sechs Jahren bei mir im „Skater’s Palace“ in Münster. In dem Rahmen habe ich überhaupt erst meine Diagnose bekommen. Diese Kids passen nicht in die Norm und müssen deshalb unglaublich kämpfen, um im Leben klarzukommen. So wie ich früher. Mittlerweile sagen selbst Eltern, die das für totalen Quatsch hielten, dass ihr Sohn nach dem Skateboarden zwei Tage lang in der Lage ist, konzentriert Hausaufgaben zu machen. Begeisterung ist Dünger fürs Gehirn.

Obwohl Sie in der Schule ständig Ärger hatten, haben Sie auf Lehramt studiert. Wieso?

Das war der Zeitgeist, und jetzt kann ich dadurch zeigen, dass Pädagogik so funktioniert, dass Kinder wie ich in der Schule klarkommen.

Andere verlieren mit 70 an Energie. Sie können kaum stillsitzen.

Ich bin verdammt ruhig geworden. Wenn ihr mich mit 30 erlebt hättet – ich konnte 18 Stunden konzentriert Gas geben, dachte immer: Warum erwische ich ständig so Schluffis als Mitarbeiter? Die kippen alle nur um!

An welchem Skatetrick sind Sie mal gescheitert?

An ungefähr allen. Ich bin ja eher Oldschool gefahren. Hinzu kam, dass ich eine andere Rolle hatte. Ich war der Organisator von Events und Meisterschaften, hatte ein Showteam, ein Skateboard-Label und 20 Tochterfirmen. Da kommst du nicht mehr viel zum Kickflip üben. Ich gestehe: Irgendwann habe ich sogar das Skateboard gegen Rollerskates getauscht, damit ich überhaupt noch in der Halfpipe mitfahren konnte.

Hat Ihnen die Skaterszene den Wechsel auf Inlineskates nicht übelgenommen?

Rollerskates! Das ist ein himmelweiter Unterschied. Die Rollerskate-Szene damals war genauso akzeptiert wie die Skateboardszene.

Was war denn dann so schlimm an Inlinern, außer dass die Rollen in einer Reihe verbaut sind?

Anfangs waren auch die ein Ausdrucksmittel für jugendliche Rebellion. Zerkratzte Treppengeländer und so. Der Vorteil des Skateboards: Es ist erwachsenenuntauglich. Schon, weil es feinmotorisch so anspruchsvoll ist. Nur ist Inlineskaten dagegen gar nicht schwierig, also wollten die Eltern auch cool sein und sind damit um die Seen dieser Republik gefahren. Und alle, die rebellieren wollten, standen auf dem Schlauch. Jugendliche haben es heute schwer, ihren eigenen Weg zu finden. Für mich war das einfach. Zur Hippiezeit habe ich mir heimlich eine Blümchenhose gekauft, die packte ich in eine Plastiktüte und zog sie auf dem Weg zur Disko an. Wenn heutzutage einer ins Punkkonzert gehen will, fragt die Mama: Darf ich mit? Wie willst du dich da als Kind freischwimmen?

„Lernen muss für Kinder nicht scheiße sein“

Dittmann organisiert in seinen Skatehallen Seminare und Workshops für Kinder und Jugendliche.
Dittmann organisiert in seinen Skatehallen Seminare und Workshops für Kinder und Jugendliche.

© imago/Rüdiger Wölk

Darüber haben Sie gerade ein Buch geschrieben. Sie kritisieren, dass Kinder heute keine Freiheiten mehr hätten und fordern „erwachsenenfreie Räume“. Was meinen Sie damit?

Dass ein Kind zu bestimmten Zeiten gar nicht mehr spürt, dass da eine Aufsichtsperson ist. Es soll nicht das Gefühl haben, kontrolliert zu werden. Das gilt schon für kleine Kinder, die gerade krabbeln können. Zu viel Förderung verhindert, dass Kinder sich selber Ziele setzen und die alleine erreichen. Das fängt mit Klötzchen-Aufeinanderstapeln an. Auch ohne Hilfe hat das Kind sie irgendwann zusammen. Es hat etwas Wunderbares geschaffen und ist stolz darauf. Alleine.

Wieso sollen Eltern dabei nicht helfen?

Lernen muss für Kinder nicht scheiße sein. Wird es aber, wenn es nur fremdbestimmt stattfindet und man ihnen gar nix mehr zutraut. Auch körperlich. Plötzlich fällt jedes dritte Kind durch die Fahrradprüfung, weil sie den ganzen Tag in der Schule sitzen und keine Möglichkeit mehr haben, sich auszuprobieren, Mutproben zu machen, Kräfte zu messen. Ich sehe keine Balance mehr zwischen selbst- und fremdbestimmtem Lernen. Fürchterlich!

Also ist gegen eine ordentliche Schulhofsklopperei nichts zu sagen?

Ich weiß, dass ihr mich hier festnageln wollt. Jetzt könnte ich sagen, mit 25 Newtonmetern zuschlagen ist okay, ab 30 ist das nicht in Ordnung. Das werde ich nicht machen. Wir sind Menschen, verdammt, warum tun wir immer so, als hätten wir unsere Emotionen im Griff?

Sie sagen auch, der Ethikunterricht ersetze nicht den Diebstahl eines Schokoriegels. Wenn ein Jugendlicher in Ihrem Skateladen einen Pullover klaut, finden Sie das also gut?

Das Klauen eines Schokoriegels ist verwerflich! Ich finde auch die Akzeptanz fürs Schuleschwänzen, um für das Klima demonstrieren, nicht korrekt. Dadurch gehen Grenzen verloren. Wir haben eine Schulpflicht, das ist gesetzlich festgeschrieben.

Jetzt widersprechen Sie sich, Sie wollen doch, dass die Kinder aus eigenem Antrieb auf die Straße gehen.

Wenn Eltern und Politiker bei der Schülerdemo mitlaufen, wird für die Kinder der Weg zur Selbstbestimmung schwieriger. Schließlich demonstrieren sie doch gegen deren Politik. Und was machen die blöden Erwachsenen? Sie tun so, als hätten sie mit dem Klimaproblem nichts zu tun und hebeln so den ganzen Protest aus. Wo bleibt da die Konsequenz? Ich finde es zum Kotzen, wenn Politiker sagen: Kids, scheißt auf die Gesetze! Es kommt nur darauf an, dass ihr für das demonstriert, was wir auch gut finden. Das ist doch willkürlich, oder?

Sie haben 1968 Abitur gemacht. Wie hat der Zeitgeist von damals Sie beeinflusst?

Durch die Parolen. „Trau keinem über 30“, „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“. Die ernst zu nehmen, hat das Leben ganz schön stressig gemacht.

Stattdessen leben Sie seit Ihrer Jugend mit Ihrer Frau Brigitta zusammen, die wie Sie aus Kirchen an der Sieg stammt. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Das war ein kleines Kaff, damals 5000 Einwohner. Der Fluss in der Mitte war die Demarkationslinie. Auf dem einen Hügel wohnten die Katholiken, also meine spätere Frau, auf dem anderen die Protestanten, dazu zählte ich. Man hatte nichts miteinander zu tun, höchstens haben wir Jungs mal gegeneinander Tannenzapfenschlachten ausgetragen. Westerwälder Gotcha.

Klingt wie „Romeo und Julia“. Wann kamen Sie sich zum ersten Mal näher?

Sie war 17 und ich 20. Dann entstand die erste konfessionsfreie öffentliche Zone, genannt: Diskothek. Brigitta saß in einem Cocktailsessel. Ein laufender Meter, weißblonde Locken. Das schönste Mädchen des Dorfes. Ich dachte: Wow, die musst du kennenlernen. Ich hatte keinen Plan, bin rüber, habe ein Bein über die Lehne geschwungen und saß plötzlich hinter ihr. Da habe ich mich erschreckt, wurde panisch und wusste nicht, was ist sagen sollte. Mir fiel nichts Besseres ein, also fragte ich: „Na, hast du schon mal gebumst?“

Und damit hatten Sie wirklich Erfolg?

Sie drehte sich zu mir um und antwortete: „Das geht dich einen Scheißdreck an.“ Ich bin dann wieder aufgestanden. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, aber da wir uns so früh kannten, haben wir uns gegenseitig sozialisiert und erzogen.

Wie meinen Sie das?

Wir sind seit 50 Jahren zusammen und seit 44 verheiratet. Wir hatten alle Krisen, die eine Ehe haben kann. Aber egal, wie wir uns zwischendurch genervt haben, wie wir uns angeschrien haben, wie scheiße wir uns fanden, da war immer diese Ratio: Man kann doch nicht eine Beziehung hinschmeißen, weil irgendwas nicht läuft. Dann muss man an sich arbeiten.

Sie sind gerade zum zweiten Mal Opa geworden. Gelten für Ihre Enkel jetzt andere Maßstäbe als für Ihren Sohn Julius, der heute die Firma führt?

Ich dachte, ich sei der geilste Pädagoge der Welt. Ich wollte kein Papa sein, habe meinen Sohn wie einen Freund behandelt. Gleiche Augenhöhe. Ja, scheiße! Im Endeffekt war ich egoistisch. Ich wollte Spaß mit ihm haben, Snowboarden gehen. Ich habe dafür gesorgt, dass er die Pubertät nicht mitgekriegt hat. Er hatte diesen Loslösungsprozess von den Eltern nie. Das spüre ich, wo ich Opa bin und mein Sohn die Geschäfte übernommen hat. Jetzt konzentriert er sich umso mehr auf seine eigene Familie.

Als Elternteil haben Sie eine gewisse Vorbildfunktion. Haben Sie beim Skaten einen Helm getragen?

In den 70ern schon. Selbst, als wir nur durch die Stadt gerollt sind, trugen wir Knieschoner, Helm. Wir hatten gepolsterte Hosen! Wir wollten jedem zeigen, was wir für geile Typen sind und was für gefährliche Sachen wir machen. Deswegen haben wir uns eingepackt wie in eine Ritterrüstung. Dann wurde in den USA das Skaten im öffentlichen Raum verboten. Stattdessen wurden Parks gebaut und in denen durftest du nur mit Helm und Schonern fahren. Ab da waren die Coolsten jene, die auf der Straße ohne Helm und ohne Schoner gefahren sind. Aber dennoch ist es natürlich richtig zu sagen: „Kinder, schont eure Birne!“

In Ihrem Buch schildern Sie, wie ihr Sohn gemeinsam mit einem Freund beschloss, „lebende Fackel“ zu spielen. Die beiden hatten ihre Jacken mit Benzin besprenkelt und fragten nach Ihrem Rat, und Sie haben mitgemacht.

Im gewissen Alter finden so Sachen statt. Jeder hat irgendwelchen Scheiß gemacht, den er zu Hause nicht erzählen konnte. Ich fordere Eltern keineswegs auf, ihre Kinder bewusst in Gefahr zu bringen. Ich bin nur dafür, den Kindern Freiräume zu geben und locker zu bleiben. Dann brechen sie sich vielleicht mal den Arm oder haben eine Schürfwunde. Aber sie haben vielleicht eine Lektion fürs Leben gelernt.

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