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Der Blick auf die Fassade des Kunstmuseums "Barkenhoff" in Worpswede.

© picture-alliance/ dpa/ Ingo Wagner

Jubiläum in Worpswede: Ein Ort, der Kunstgeschichte geschrieben hat

Kommendes Wochenende feiert Worpswede seinen 800. Geburtstag. Einst pilgerten bedeutende deutsche Künstler in den kleinen Ort, um sich inspirieren zu lassen. Doch nach der Idylle kam die Barbarei.

Ganz oben an der Treppe steht Martha, zu ihren Füßen liegt ein Windhund. Rechts auf der Empore spielen Franz Vogeler die Geige, Heinrich Vogeler das Cello und Martin Schröder die Querflöte. Links die Zuhörer: Paula Modersohn-Becker, ihre Freundin Agnes Wulff, Otto Modersohn und, getrennt von den anderen, die Bildhauerin Clara Westhoff. Die Frau von Rainer Maria Rilke. Neben ihr ein leerer Platz. Wo ist ihr Mann?

Er lebt schon lange in einer Dachkammer in Paris, hat 1902 sie und seine Tochter Ruth verlassen. Clara folgte ihm, wollte die Ehe retten. Doch die war schon tot. Jetzt lebt sie wieder hier in Worpswede, dem Künstlerdorf.

Die Boheme, die sich im Obergeschoss des Barkenhoffs Sonntag für Sonntag getroffen und geredet und gesungen und gegessen und getrunken und musiziert und geträumt hatte, ist zu einem denkwürdigen Gesamtkunstwerk erstarrt. Sie sehen aus wie Fremde, die nur der Zufall an diesem Sommerabend vereint hat. Gleich werden sie wieder ihrer Wege gehen. Jeder für sich. Heinrich Vogeler, der Hausherr, muss diese Endzeitstimmung gespürt haben, er hat das sich wegschleichende Leben in seinem Bild „Sommerabend“ festgehalten. Worpswede, der Traum von gleichgesinnten, aufmüpfigen, Konventionen trotzenden Künstlern oder leidenschaftlich querbeet sich Liebenden, scheint ausgeträumt.

Ein unbekanntes Dorf - bis die Künstler kamen

Aufsteigend vom Barkenhoff führt ein schmaler Pfad durch den Wald zur Anhöhe, der Worpswede seinen Namen verdankt. Worp heißt so viel wie Hügel, wede so viel wie Holz, macht Worpswede. Wer sich vor genau 800 Jahren zum Zwecke menschlicher Besiedlung um jenen Worp scharte, scherte naturgemäß jahrhundertelang niemanden. Worpswede war halt ein Dorf, so wie es in der norddeutschen Tiefebene diesseits der Hansestadt Bremen viele Dörfer gab. Mit reichen Bauern, denen Vieh und Ackerland gehörten und die auf prachtvoll großen Höfen lebten. Mit armen Landlosen, die dem umliegenden Moor den feuchten Torf abstachen und ihn im Herbst als Brennstoff in die Städte brachten.

Bis die Künstler kamen und blieben. Bis das Dorf seine Unschuld an die Nazis verlor. Als einige Maler mitliefen, hinterherliefen, voranliefen, „arteigene Kultur im Sinne Adolf Hitlers“ fordernd.

Ende August 1889 beginnt der Mythos Worpswede. Als sich ihre Sommerferien neigten, beschlossen sie zu bleiben: Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Paula Modersohn-Becker, Hans am Ende, später Fritz Overbeck, Carl Vinnen und Heinrich Vogeler. Sie entdeckten, was zwar schon immer da war, aber zuvor niemand mit ihrem Blick gesehen hatten. Weit genug entfernt vom Lärm einer Stadt und an der doch nah genug, um nicht in Langeweile zu versumpfen. Seitdem ist das Dorf auf der Landkarte der Kunst verortet. Verbunden nicht zuletzt mit dem Namen Paula Modersohn-Becker – jene Malerin, die zur wichtigsten Künstlerpersönlichkeit unter allen Dorfbewohnern wurde.

Worpswede ist im kollektiven Bewusstsein der Bildungsbeflissenen zu einem Gesamtkunstwerk gewachsen, malerisch gelegen, ausmalend beschrieben, dunkle Flecken übermalend.

Rilke wurde zum Lokalreporter

Selbst Rilke wurde zum Lokalreporter, als er notierte, was Künstler, die in die Freiheit der Natur aufbrachen, so faszinierte: „Worpswede ist flaches Land mit Birkenalleen, alten Bauernhäusern, Rosenbüschen und Vogelbeerbäumen. Der Boden teilt sich zwischen roter Erikaheide, die wunderbar duftet, und auf dem seltsamen, von Kanälen durchschnittenen Moorland. Worpswede ist berühmt durch die Klarheit und die Farbigkeit seiner Luftstimmungen und durch die Pracht der Wolken.“

Weshalb bestimmte Gemälde, bald gerühmt und begehrt und gekauft vom wohlhabenden Bürgertum der Gründerzeit, als typisch worpswedisch galten: Moorlandschaften, Birken, Kanäle, Windmühlen und über allem ein weiter Himmel, der unendlich schien. Was gründelte und brodelte und modrig zu riechen begann, fiel im Überschwang gemeinsamer Malleidenschaften noch nicht auf. Anfangs waren sich die ersten Bewohner der Künstlerkolonie auch menschlich und gesellschaftlich nah, da sie gemeinsam eine verrückte Einheit bildeten innerhalb der bäuerlichen Welt.

Nicht nur durch ihre Kunst, denn die blieb den Dörflern fremd und suspekt, selbst dann, wenn sie sich oder ihre Umgebung erkannten. Sondern auch durch ihre Lebensart. Die Gastwirtschaften, in denen sich nach dem Kirchengang die frommen Bauern trafen, mutierten nachts zu Künstlerkneipen, in denen gesoffen und wortgewaltig Bilder einer neuen Welt gemalt wurden – anderntags umgesetzt in der Wirklichkeit, auf Staffeleien im Moor.

Modellsitzen wurde mit einem Taler bezahlt

Es gibt Fotos aus jener Zeit, in denen Bauern zu sehen sind, die verwirrt auf ihre neuen Nachbarn blickten, die nur den Augenblicken verpflichtet schienen. Aber weil sie ihnen die Häuser abkauften; weil sie in ihren Höfen Zimmer vermieten konnten an anreisende Kunstinteressierte, nachdem die Worpsweder 1895 auf der Münchner Jahresausstellung im Glaspalast Kritik und Publikum begeistert hatten; weil sie Frauen und Kindern einen Taler bezahlten, falls die für sie Modell saßen, akzeptierten die Alteingesessenen die Neuankömmlinge. Schüttelten zwar insgeheim die Köpfe, wenn zum Beispiel Heinrich Vogeler wie ein Dandy gekleidet über die staubige Dorfstraße spazierte, aber höflich seine Hand, die er ihnen entgegenstreckte.

Worpswede war ein großes Atelier. Bot Platz für alle, für allerlei Art: bäuerliches Leben und Sterben von Mackensen, Stillleben von Hans am Ende, Mondnächte von Vinnen, Gespenstisches von Otto Modersohn, aufblühend Mädchenhaftes von Heinrich Vogeler. Und alle überstrahlend: Paula Modersohn-Becker Mütter mit Kindern, paarweise, einzeln, Fremde in der Idylle Worpswede, und deshalb Weltkunst.

In nur einem Jahrzehnt schaffte Modersohn-Becker Bedeutenderes als all die Männer im Dorf. „Ihre Zeitgenossen, auch ihr Ehemann, hatten ihrem Können, ihrer Kunst, nichts Gleichwertiges zu bieten“, sagt Katharina Groth, heutige künstlerische Leiterin der Künstlerhäuser Worpswede. Dann verließ sie ihren schwerblütigen Mann, um in Paris zu leben und zu studieren, erbat in vielen Briefen die Scheidung, aber Otto Modersohn gab sie nicht auf. Er zog zu ihr nach Paris und verließ ihretwegen seine andere große Liebe – Worpswede. Er schien sogar gewonnen zu haben, als Paula schwanger mit ihm zurückkehrte. Aber nur wenige Tage nach der Geburt der Tochter Mathilde, am 20. November 1907, starb Paula Modersohn-Becker, gerade mal 31 Jahre alt.

Paula Modersohn-Becker war eine der wichtigsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus.
Paula Modersohn-Becker war eine der wichtigsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus.

© akg / Adobe Stock

Von da an war sie unsterblich. Die Unvollendete, in deren Gemälden die vollendete Kunst des Expressionismus aufblühte, hat sich um Worpswede verdient gemacht. Darf man das so sagen? Kann man, ja. Denn bis heute lockt vor allem ihr ungewohnter, ihr ungewöhnlicher Blick auf Landschaft und Menschen im Teufelsmoor Tausende von Touristen hierher. Bernhard Hoetger, nicht nur Bildhauer, sondern auch Architekt, der sich mit seinen Bauten in Worpswede ein paar Denkmäler gesetzt hat, hat Paula Modersohn-Becker ebenso verewigt. Erst für die Darmstädter Mathildenhöhe, dann in einem kleineren Abguss für Worpswede: die Skulptur einer sterbenden Frau, auf ihrem Schoß ein neugeborenes Kind. Das Werk heißt „Werden und Vergehen“, Mathilde und Paula.

Heinrich Vogeler, der das Künstlerleben in Worpswede in seinem Gemälde festhielt, verliebte sich ebenfalls, kaum angekommen, in die Lehrerstochter Martha. Sie ist aber erst 14, also unantastbar. Der Verliebte malte Moor und Wiesen und Birken wie die anderen auch, aber in denen saßen Mädchen, Mädchen, Mädchen. So warb er in jedem Gemälde um sie, bis sie endlich alt genug war, um ihn zu erhören. Aber von wegen Liebe, bis dass der Tod ihn von seiner so viel jüngeren Martha scheide. Als er ihr nicht mehr genügt, holt sie sich einen Geliebten in den Barkenhoff, was ihr Ehemann leidend akzeptiert, um die von ihm so Geliebte wenigstens noch in seiner Nähe zu wissen.

1926 dann, innerlich zermürbt, gibt er auf, lässt sich scheiden und verlässt fünf Jahre später die zerfallende Weimarer Republik Richtung Moskau. Martha Vogeler wird 1937 Mitglied der NSDAP, womit sie im Dorf Worpswede zur absoluten Mehrheit gehört – wie auch der überzeugte Nazi Fritz Mackensen, Vogelers früherer Mitstreiter, dem seit seinem schon 1897 entstandenen Werk „Trauernde Familie“ nichts Wesentliches mehr gelungen war.

Die Nazi-Vergangenheit hat Worpswede lange verdrängt

Jetzt malte er laut tönend aus dem „Urgrund deutsch-nordischen Volktums“ und diente sich mit seinem Monumentalgemälde „Drei Generationen“ den Nazis an. Und fiel durch, weil keiner auf dem Bild eine Uniform trug oder wenigstens ein Parteiabzeichen. Aber die siegreichen Engländer, die nach 1945 sein Wohnhaus als Offizierskasino benutzten und ihn in die Gartenlaube verbannten, denen gefiel Mackensens Werk. Sie liebten es, nüchtern oder trunken, auf die mannshohen Figuren ihre Schießübungen zu machen. Fritz Mackensen ist in der Kunsthistorie eher unbedeutend, unwesentlich. Aber, so beschreibt ihn Katharina Groth, „menschlich und politisch typisch für viele seiner Art in Deutschland“.

Mit seiner Vergangenheit hat Worpswede lange nichts anfangen wollen. Am liebsten hätte man alles wohl im Moor versenkt: Niederdeutsche Malertage in der Gau-Kulturwoche, den Kunstwart Mackensen als Vertreter der Reichskulturkammer samt seinem Bild „Reichsarbeitsdienst“, nationalsozialistischer Realismus, ein Porträt des Obernazis Konstain Hierl, der jenen Arbeitsdienst anführte, dessen Dienstverpflichtete die Moore trockenlegten und von Mackensen gemalt worden waren.

300 Worpsweder ließen sich in den Wochen nach der letzten freien Wahl so lange Zeit mit ihrem Eintritt in die NSDAP, bis feststand, wo die Sieger standen. Otto Modersohn wird als treuer Nationalsozialist, wie es in der Urkunde heißt, zum Professor ernannt und ihm von Adolf Hitler die Goethe-Medaille verliehen.

Geschichten von Verrat, Mut und Idealismus

Aber nicht nur beschämende Geschichten von Anpassung und Schuld, von Feigheit und Verrat müssen erzählt werden. Sondern auch die von Idealismus und Mut bis in den Tod. Heinrich Vogeler wird in der Sowjetunion als Vertreter des besseren Deutschland geehrt und mit seiner Kunst als Propagandist gegen die Verbrechen der Nazis benutzt, weshalb die ihn auf die Liste der beim Endsieg zu exekutierenden Exilanten setzen. Doch in der stalinistischen Diktatur wird er zwangsevakuiert in das ferne Kasachstan, wo er, mittellos, bettelnd, gesundheitlich ein Wrack, 1942 verhungert.

Ehre gebührt ebenso Cato Bontjes van Beek, einer Nichte von Otto Modersohn. Sie wuchs in der Nähe von Worpswede auf und schließt sich ab 1941 der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ an. Sie druckt und verteilt Flugblätter mit der Aufforderung, die Verbrecher endlich zu verjagen – bis der „Rote Kapelle“-Funker Johann Wenzel von einem Sonderkommando der Spionageabwehr im besetzten Belgien festgenommen und im Gestapo-Keller gefoltert wird. Er verrät alle Kontakte, auch die in Deutschland. Cato hat keine Chance. Verhaftet im September 1942, zum Tode verurteilt im Januar 1943, hingerichtet per Fallbeil am 5. August 1943 um 19.42 Uhr. Da war sie 22 Jahre alt.

Spät zur Schuld bekannt

Das Teufelsmoor hat als Inspiration für viele hoch- oder minderbegabte Maler seine Schuldigkeit getan. Worpswede hat sich spät zu seiner Schuld bekannt, dann aber seine Geschichte aufgearbeitet statt wie viele Jahre zuvor durch Verdrängung bewältigt.

Und die Maler, Bildhauer, Poeten und Mimen, die kamen, als die Freiheit unter dem weiten Himmel wieder grenzenlos schien, sind nicht weniger verrückt, als es auch ihre Ahnen waren. Friedrich Meckseper zum Beispiel, ausgebildeter Techniker und Lokomotivbauer, dann erst Grafiker, Maler, Zeichner, ist so ein Verrückter der Neuzeit. Er lebte bis 1984 in Worpswede, nicht weit entfernt vom Bahnhof, den Vogeler entwarf, heute ein Restaurant, an dem der touristische Moorexpress stoppt. In einem Schuppen hielt er sich eine eigene Lok, auf einem schmalen Nebengleis zum Schienstrang, der durchs Teufelsmoor führt, setzte die hin und wieder unter Dampf und fuhr mit ihr 30, 40 Meter vor und 30, 40 Meter zurück.

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus Michael Jürgs’ Buch „Wer wir waren, wer wir sind. Wie Deutsche ihre Geschichte erleben“, erschienen im Penguin Verlag. Seinen 800. Geburtstag feiert Worpswede am kommenden Wochenende mit einem großen Fest. Mehr zu den Feierlichkeiten unter worpswede-touristik.de/800.

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