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Fast 30 Meter hoch ragt der Turm mit den 40 Windspielen nahe der Absturzstelle in Shanksville, Pennsylvania.

© Jeff Swensen/Getty Images/AFP

11. September 2001: Flug 93: Das Unglück, die Erinnerung, der Trost

Die Angehörigen der Passagiere von Flug 93 haben am Absturzort einen "Tower of Voices" errichtet. An diesem Dienstag gedenken sie hier der Opfer von 9/11.

Als die Reden verklingen, stehen sie von ihren weißen Plastikstühlen auf und laufen langsam los. Manche Arm in Arm, andere ganz für sich. Begleitet von den Stimmen der United States Air Force Singing Sergeants und dem Lied "One Voice" folgen sie dem Weg, der sich den Hügel hinaufwindet, einmal um den fast 30 Meter hohen Turm aus Beton und Stahl herum. Dann stehen sie oben nebeneinander, in mehreren Reihen, und schauen hinab, kein Regenschirm schützt sie vor den Wassermassen, die der Himmel an diesem Tag unerbittlich ausschüttet. Aber der Regen stört sie nicht weiter, denn: Es ist vollbracht. Nach 17 Jahren wird der "Tower of Voices" nahe der Absturzstelle des United-Airlines-Flugs 93 in den Bergen von Somerset County in Pennsylvania feierlich eröffnet. Es ist der Schlussstein eines Nationalparks, der zur Erinnerung entstanden ist. Die Angehörigen der 40 Passagiere und Crew-Mitglieder, die sich am 11. September 2001 entschieden haben, ihre eigene Maschine zum Absturz zu bringen, um Schlimmeres zu verhindern, haben es geschafft.

"Wir sind heute stolz – und erleichtert", erzählt Gordon Felt später, als sich die Familien zum Aufwärmen in einem weißen Zelt versammelt haben. Felt hat am 11. September 2001 seinen älteren Bruder Edward Porter Felt verloren, ein Verlust, der seither sein Leben bestimmt. Edward war einer der Passagiere, die vom New Yorker Flughafen Newark nach San Francisco fliegen wollten. Als ihre Maschine wie drei andere an diesem Tag von Al-Qaida-Terroristen entführt wurde und ihnen durch Handygespräche klar wurde, dass auch sie als fliegende Bombe nach Washington unterwegs waren, entschlossen sie sich zu handeln: Mit dem inzwischen legendären Kommando "Let's Roll!" griffen sie ihre Entführer an, der Doku-Thriller "Flight 93 – Todesflug am 11. September" von 2006 spielt die Geschichte nach. Um 10.03 Uhr stürzte die Boing 757 auf einen Acker nahe der kleinen Ortschaft Shanksville. 15 Flugminuten später hätte die Maschine die Hauptstadt Washington erreicht – und womöglich das Weiße Haus oder das Kapitol.

Er weiß noch genau, wo er am 11. September war - wie wahrscheinlich fast jeder Amerikaner

Gordon Felt kann sich noch genau an den Dienstag vor 17 Jahren erinnern, wie wahrscheinlich jeder Amerikaner, der damals alt genug war. "Ich arbeitete in einem Sommercamp für autistische Kinder. Der Sommer war fast vorbei, und wir waren dabei, das Camp zu schließen, als ein Kollege kam und fragte. Wisst ihr, was gerade passiert?"

Gordon Felt (vorne im Bild), der vor 17 Jahren seinen Bruder verloren hat, bringt das Glockenspiel zum Klingen. Neben ihm der ehemalige Innenminister Tom Ridge (2.v.l.) und der Architekt Paul Murdoch (3.v.l).
Gordon Felt (vorne im Bild), der vor 17 Jahren seinen Bruder verloren hat, bringt das Glockenspiel zum Klingen. Neben ihm der ehemalige Innenminister Tom Ridge (2.v.l.) und der Architekt Paul Murdoch (3.v.l).

© Jeff Swensen/Getty Images/AFP

In den nächsten Stunden musste Gordon Felt lernen, was am World Trade Center in New York und dem Pentagon in Washington passierte, an seinen Bruder dachte er da zunächst nicht. "Bis Sandy, Edwards Ehefrau, anrief und sagte, dass sie sich Sorgen mache, weil sie nichts von ihm gehört habe." Spät am Nachmittag hatten sie traurige Gewissheit. Edward war an Bord von Flug 93, die Maschine war abgestürzt. Am Ende dieses Tages waren mehr als 3000 Menschen tot, eine nationale Tragödie, von der sich das Land bis heute nicht wirklich erholt hat.

Fast 40 Anrufe haben die Insassen von Flug 93 noch tätigen können. 40 Windspiele in dem "Tower of Voices" sollen von nun an für immer an die 40 Helden von Flug 93 erinnern.

Zur Einweihung am vergangenen Sonntag werden die riesigen, jeweils knapp 70 Kilogramm schweren Aluminiumröhren von deren Angehörigen mit Seilen zum Klingen gebracht, zu hören sind blecherne Töne als Echo der Verstorbenen. Jedes Windspiel klingt anders. "An diese Stimmen wollen wir erinnern", sagt der Architekt Paul Murdoch aus Los Angeles. Murdoch hat zusammen mit seiner Frau Milena das insgesamt knapp neun Quadratkilometer große Gelände des Nationalparks gestaltet, zu dem auch ein Besucherzentrum und der Memorial Plaza, ein Aussichtspunkt auf den eigentlichen Absturzort, gehört. "Ich nenne es ein lebendiges Denkmal aus Tönen", sagt er. "Denn die bleibendste Erinnerung, die viele Angehörige haben, ist durch die Anrufe entstanden."

Die Angehörigen kehren immer wieder an den Absturzort zurück

Der erste Teil des Parks wurde am zehnten Jahrestag der Terroranschläge eingeweiht, der Memorial Plaza, auf dem eine weiße Marmorwand mit den Namen der Opfer steht. 2015 kam das Besucherzentrum dazu, mit dem Turm ist das Denkmal nun fertiggestellt, das unter anderem durch die Spenden von mehr als 100.000 Privatpersonen finanziert wurde, 46 Millionen Dollar kamen so zusammen. Das Projekt begleitet haben von Anfang an die Familienangehörigen, auch darum ist es ihr Denkmal.

Wie Gordon Felt kommen viele von ihnen immer wieder an den Absturzort zurück. Das Unglück und die Erinnerung daran ist Teil ihres Lebens geworden. Hier finden sie Trost. "Jeder trauert anders. Manche der Angehörigen bleiben lieber für sich, andere sind diesem Projekt eher locker verbunden. Aber ich finde Trost, wenn ich mich hier engagieren kann", sagt Gordon Felt, der heute 54 Jahre alt ist, sein Bruder Edward wäre 58. "Wenn ich an den 11. September zurückdenke, spüre ich den Verlust, Traurigkeit und ja, Wut, immer noch. Aber ich bin auch stolz, dass mein Bruder Teil dieser Gruppe war, die sich dafür entschieden hat zu kämpfen, und dagegen, dass die Entführer bestimmen, wie ihr Leben zu enden hat." Das könne ein Beispiel für alle sein: einzugreifen, wenn man merkt, dass etwas falsch läuft. "Ich fühle mich meinem Bruder hier sehr nahe, vor allem, wenn nicht so viele Leute wie heute hier sind und ich einfach eine Privatperson sein darf." Man glaubt es dem schmalen Mann in der durchnässten roten Windjacke und dem roten Käppi, auf dem "America" steht, dass er die Ruhe dem Trubel vorzieht. Aber für ihn ist es auch wichtig, wie er sagt, "der Welt ihre Geschichte zu erzählen". Das ist zu seinem Auftrag geworden.

An diesem Dienstag, dem 17. Jahrestag von 9/11, wird Felt noch einmal vor dem Turm stehen, um von seinem Bruder und den anderen Passagieren zu erzählen, von ihrem Heldentum und seinem Verlust. Wenn US-Präsident Donald Trump und viele andere am "Tower of Voices" der Opfer gedenken, wird er als Vertreter der Angehörigen eine Rede halten. Aber danach kehrt Ruhe ein. Dann wird Felt wiederkommen, wie er es seit 17 Jahren mehrmals im Jahr macht. Er wird über das Gelände laufen, an den mehr als 200 Bäumen vorbei, die zur Erinnerung rund um den Hügel gepflanzt wurden, den Weg hinauf zum Turm. Dann, wenn der Wind stark genug ist, wird er die 40 verschiedenen Stimmen aus dem steinernen Instrument hören, manche harmonisch, manche nicht, so, wie auch seine Erinnerungen sind. Und dann wird er an seinen Bruder Edward denken.

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