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© David Heerde

Flirten: Ohne Kino kein Kiss Close

Beim Flirten besteht immer die Gefahr des Scheiterns. Tagesspiegel-Redakteur Sebastian Leber hat darüber ein Buch geschrieben Einer der Protagonisten: Richard, 24. Er erzählt von seinem Leben als „Pick-Up-Artist“. Ein Vorabdruck

Ich hatte sie fast so weit. Wir lagen bereits auf ihrem Bett, die Bluse hatte Denise alleine ausgezogen. Wir hatten uns geküsst, umschlungen, bestimmt fünf Minuten. Jetzt musste der nächste Schritt kommen: Der BH war fällig. Ich mochte ihn sowieso nicht, er war braun und hatte Blümchenverzierungen. Warum denken Frauen, Dessous mit Spitze seien erotisch? Das sieht nach Omas Tischdecke aus. Mit der rechten Hand griff ich von hinten an den Verschluss, er klemmte ein bisschen, aber ich war auf gutem Weg. Bis Denise plötzlich sagte: „Nee lass mal bitte. Nimm deine Finger weg.“

Ich war nicht wirklich überrascht. Klarer Fall von LMR – „Last Minute Resistance“. Ich weiß, was in solchen Fällen zu tun ist. Die meisten anderen Männer wissen es nicht. „Was glaubst du, Denise, worauf ich grad wirklich Lust hätte? Auf ein Glas Orangensaft.“ Ich ließ von ihr ab, setzte mich auf die Bettkante, strahlte sie an. „Hast du so was zufällig im Kühlschrank?“ Wir nennen das „Freeze out“. Ich werde es später erklären.

Ich bin ein Pick-Up-Artist, kurz PUA. Mein Hobby besteht darin, fremde Frauen anzusprechen und mit ihnen zu flirten. Frauen wie Denise, 22, Anglistikstudentin. Wenn alles gut geht und ich keine Fehler mache, steht am Ende der „Fuck Close“, der würdige Abschluss. Ein „Kiss Close“ gilt aber auch als schöner Erfolg.

Wir sind eine Bewegung, Zehntausende inzwischen, und dass wir ständig mehr werden, hat einen simplen Grund: Unsere Technik funktioniert. Wer bestimmte Regeln einhält und Strategien verfolgt, kann als PUA ein Leben führen, von dem er nicht zu träumen gewagt hätte.

Zunächst das Basiswissen. PUA kommt aus Amerika. Auch hier in Deutschland benutzt man die englischen Fachbegriffe, man würde schließlich auch nicht „Dunking“ oder „Tie-Break“ übersetzen. Als PUA verstehe ich das Umwerben einer Frau als „Game“. Wobei wir allerdings nicht Frau sagen, sondern „Target“. Wahlweise auch „Hot Babe“, vor allem in Abgrenzung zu einem „Super Hot Babe“. Denise fiel eher in die Kategorie „Hot Babe“: Anfang zwanzig, kurz geschorenes Haar, nettes Gesicht. Ich hatte sie im „Speicher“ an der Oberbaumbrücke ins Visier genommen. Ich spielte also ein „Club Game“, die Alternative dazu wäre das „Street Game“, bei dem man seine „Targets“ auf offener Straße anspricht. Das ist etwas schwieriger.

Als ich vor zwei Jahren das erste Mal von dieser ominösen Pick-Up-Bewegung hörte, hielt ich die Sache für Abzocke und Angeberei. Ich dachte, da ziehen Geschäftsleute verklemmten Verlierertypen das Geld aus der Tasche. Stimmt aber nicht. Natürlich gibt es Workshops, bei denen man locker zweihundert oder auch fünfhundert Euro für ein Wochenende Intensivtraining bezahlen muss, aber tatsächlich ist die PUA-Szene sehr viel größer und lebendiger organisiert. PUAs vernetzen sich in Foren und Blogs, geben sich gegenseitig kostenlos Tipps. Wen es interessiert, soll mal nach „Butterfly“ und „Monkey-Boy“ googeln. Das sind zwei Gamer aus Oberfranken, die im Netz ein Blog und dazu ein Videoblog betreiben. Sie gehören meiner Meinung nach zum Besten, was die deutsche PUA-Szene zu bieten hat. Frauen, die heimlich mitlesen wollen, seien aber gewarnt: Man kann leicht ein falsches Bild von uns bekommen und denken, wir seien Sexisten.

Das liegt vielleicht auch ein bisschen am Vokabular. Wenn ein „Target“ zum Beispiel auf erste Anmachversuche einsilbig oder sonst wie abweisend reagiert, heißt es bei uns: Die Frau versteckt sich hinter einem „Bitch Shield“. Männliches Verliebtsein dagegen gilt als Krankheit und wird „One-itis“ genannt, denn wer sich zu sehr auf die Eine fixiert, verkrampft automatisch und verhält sich ungeschickt, was die Chancen bei der Frau erheblich verschlechtert. Die beste Medizin gegen „One-itis“ heißt FTOW – „Fuck Ten Other Women“. Das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen, es geht primär um die geistige Haltung.

Entscheidend beim Anmachen ist der „Opener“. Der richtige Gesprächseinstieg. Er sollte kreativ, spaßig, überraschend oder entwaffnend sein – vor allem aber zwingend. Vorgefertigte Anmachsprüche aus Männermagazinen kann man vergessen. Die kommen immer peinlich, und die einzigen Frauen, die sich eventuell damit aufgabeln lassen, möchte man letztlich auch gar nicht haben.

Pick-Up-Artists sind keine trinklustigen Proleten. Wir verstehen uns – wie der Name sagt – als Künstler. Natürlich läuft auch bei Künstlern manchmal etwas schief, auch PUAs müssen Körbe einstecken, und zwar nicht zu knapp. Was uns aber vom Rest der Männerwelt unterscheidet: Wir schämen uns nicht für Niederlagen, wir akzeptieren sie. Und berichten uns gegenseitig unsere Abfuhrgeschichten, damit wir gemeinsam analysieren können, was im Einzelfall schiefgelaufen ist – und wie man sich künftig in einem ähnlichen Fall geschickter anstellen kann. Solche Berichte nennen wir „Field Reports“. Dies hier ist meiner.

Nachdem ich mein „Target“ im „Speicher“ anvisiert hatte, musste ich mir einen passenden „Opener“ überlegen. Das ist im Prinzip wie beim Schach: Natürlich kommt es auch auf den Gegner an, aber im Wesentlichen entscheidest du selbst, ob du die spanische Eröffnung wählst oder die russische. Bist du zum Beispiel ein „High-Energy-Monster“ wie mein Freund Tobi, kannst du locker auf dein „Target“ zugehen und einen „direkten Opener“ bringen wie: „Mir gefällt dein Gesicht. Ich will dich kennenlernen.“

Ich bevorzuge „indirekte Opinion-Opener“, dabei geht es darum, „Hot Babes“ zunächst in Sachgespräche zu verwickeln. Das fällt leicht, wenn du einen „Wingman“ zur Seite hast. Dann kannst du etwa sagen: „Entschuldigung, mein Kumpel und ich streiten uns gerade und brauchen dringend eine dritte Meinung. Wer lügt mehr: Männer oder Frauen?“

Sie wird antworten und es irgendwie begründen wollen, und du vertrittst dann einfach die entgegengesetzte Meinung, schon zappelt sie im Netz. Die „Wer lügt mehr“-Frage gilt in der Szene als der Klassiker, damit wurden schon abertausende Games gewonnen. Auch ich habe mit dieser Technik zwei „Kiss Closes“ klargemacht. Inzwischen ist aber die Gefahr zu groß, dass ein „Target“ den Spruch bereits von einem anderen „Gamer“ gehört hat.

Mein Freund Tobi fungierte an diesem Abend als „Wingman“. Ich entschied mich für einen anderen populären „Opener“. Ich ging mit Tobi in meinem Rücken auf die Kurzhaarige zu und sagte: „Entschuldigung, wir streiten uns gerade und brauchen kurz eine weibliche Meinung. Ist Khaki eigentlich eine Farbe oder ein Stoff?“

„Eine Farbe würde ich sagen.“

„Aber man sagt doch auch Khaki-Stoff“, wandte ich ein. Zack. Schon hatten wir ein Thema. Ich lächelte. „Body Language“ ist extrem wichtig. Ich hielt Augenkontakt zu Denise, achtete auf meine Haltung: Weil ich rückwärts an einer Säule lehnte, wirkte ich viel lockerer als Denise. Keinesfalls darf der Oberkörper in Richtung des „Targets“ vorgebeugt sein, das wirkt aufdringlich. Und das Bier immer auf Hüfthöhe, nie vor der Brust halten.

Tobi gab einen guten „Wingman“. Er blieb im Hintergrund, überließ mir das Reden, lachte aber konsequent über meine Witze. Er half mir beim DHV: „Demonstrate High Value“.

Ich sagte zu Denise: „Wie lustig, deine Nasenspitze bewegt sich beim Sprechen. Damit könntest du bei einer Talentshow auftreten.“ Denise lachte.

Wir nennen das „Teasing“ oder auch „Negs“. Das sind Neckereien, kleine Beleidigungen, die helfen, ihre Gleichgültigkeit dir gegenüber abzubauen. Gut funktionieren auch Scherze über Lachfalten oder Brillen oder Strähnchen im Haar, aber immer positiv verpacken und nichts wirklich Verletzendes. Bemerkungen über Augenringe oder Doppelkinne sind immer kontraproduktiv. Und ganz wichtig: Pro Anmache nur zwei „Negs“, alles andere wäre „over-negging“. Außer du bist an einem „Super Hot Babe“ dran und sie wirkt überheblich, dann sind auch drei erlaubt. Bei Denise beließ ich es bei zweien.

Wir setzten uns in eine Ecke, und ich machte „Kino“. Das ist bei uns die Umschreibung für: eine Frau berühren. Scheinbar flüchtig, aber bestimmt. „Kino“ machen ist essenziell. Wer sich hier Mühe gibt, erreicht viel bessere Ergebnisse. Man sollte an unverfänglichen Stellen beginnen, zuerst streichelte ich Denise’ Unterarm – aber in der Nähe des Ellenbogens, nicht auf Handhöhe. Später berührte ich sie auch am Schulterblatt, und weil sie so schönes kurzes Haar hatte, wuschelte ich drüber. An ihre Hand traute ich mich erst beim dritten Bier, und sie ließ es sich gefallen. Ausnahmen gibt es natürlich immer, aber im Prinzip gilt: Ohne „Kino“ kein „Kiss Close“.

Bis hierhin hatte ich alles richtig gemacht. Sie lachte über meine Witze. Dann verabschiedete ich mich auf Toilette, und als ich wiederkam, setzte ich mich nicht gleich zu ihr, sondern blieb einige Meter entfernt stehen und schrieb mir selbst eine SMS. „Takeaway“ heißt diese Taktik, so erhöhe ich ihr Interesse und signalisiere, dass sie um mich kämpfen muss. Ich bin der Preis!

Denise war zweifelsohne an mir interessiert. Ich fühlte, wie sie mich beim SMS-Schreiben beobachtete. Gegen drei entließ ich meinen „Wingman“. Ich hatte für ihn keine Verwendung mehr, außerdem wollte Tobi noch schnell ein eigenes „Game“ starten. Wurde immerhin ein „Kiss Close“, glaube ich.

Meine Pläne waren ehrgeiziger. Ich schaffte es, Denise einzureden, dass wir beide den selben Heimweg hätten und ich sie deshalb im Taxi mitnehmen könne. So landeten wir auf ihrem Zimmer, und ich durfte den hässlichen braunen BH mit den Blümchenverzierungen nicht öffnen. Die „Last Minute Resistance“.

Es gibt verschiedene Theorien darüber, wieso Frauen in letzter Sekunde einen Rückzieher machen, obwohl sie einen doch schon auf ihr Zimmer mitgenommen haben und offensichtlich zu Sex bereit waren. Die plausibelste Begründung ist wohl, dass es sich um einen archaischen Verteidigungsmechanismus handelt. Und auch der lässt sich knacken, sofern man bestimmte Regeln befolgt.

Ganz wichtig: Nein bedeutet nein. Wer jetzt anfängt, mit einer Frau zu diskutieren, sie gar zu Sex überreden zu wollen, macht es nur schlimmer. Stattdessen muss man die Situation sofort beenden und zu etwas möglichst Unerotischem übergehen. Ihr von einem bevorstehenden Urlaub erzählen, ihre CD-Sammlung bewundern oder eben um ein Glas Orangensaft bitten.

Denise holte gleich die ganze Flasche, ich bedankte mich und befragte sie ausführlich zu ihrem Unialltag. Dabei fing ich an, ordentlich „Kino“ zu machen, und bald küssten wir uns wieder. Diesmal sagte ich: „Magst du nicht den BH ausziehen?“ Sie machte es.

Ich fürchte, ich war dann wohl etwas übermütig. Hatte mich so sehr über den erfolgreichen „Freeze out“ gefreut, dass ich hastig weitermachte und ihr gleich noch den Slip wegnehmen wollte. Sie sagte: „Stopp jetzt.“

Zwei „Last Minute Resistances“ an einem Abend, das war selbst für mich zu viel. Aber ich war nicht verbittert, schließlich ist es ein „Game“. Und wer spielt, muss auch verlieren können.

— Sebastian Leber: Abgeblitzt. 33 Männer berichten von herzzerreißenden Abfuhren, schmachvollen Niederlagen und unerwiderten Gefühlen. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 240 S., 9,90 Euro. Lesung: siehe Hauspost.

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