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Französische Polizei bei Krawallen im Großraum Paris.

© REUTERS/Gonzalo Fuentes

Update

Ausschreitungen in Frankreich: Toter am Rande von Protesten – 45.000 Sicherheitskräfte mobilisiert

In Frankreich wird das öffentliche Leben wegen der Ausschreitungen eingeschränkt. Grund für die Proteste ist der Tod eines Jugendlichen bei einer Polizeikontrolle.

| Update:

Am Rande der seit Tagen anhaltenden gewalttätigen Proteste in Frankreich ist ein junger Mann von einem Dach gefallen und gestorben. Wie Polizei und Staatsanwaltschaft am Freitagabend mitteilten, ereignete sich der Vorfall in der Nacht auf Freitag auf dem Dach eines Supermarktes in Petit-Quevilly (Seine-Maritime). Über die genauen Umstände gibt es allerdings unterschiedliche Angaben.

Vertreter von Polizei und Präfektur gaben zunächst an, zu dem Unfall sei es „im Rahmen einer Plünderung“ eines Supermarktes gekommen. Später hieß es jedoch, die Ermittlungen zu den Umständen dauerten noch an. Laut der Staatsanwaltschaft in Rouen gab es in dem Supermarkt keine Plünderungen.

Das etwa 20-jährige Opfer sei gemeinsam mit einem anderen Jugendlichen gegen 5 Uhr morgens auf das Dach des Einkaufszentrums gestiegen, das aus mehreren geschlossenen Geschäften bestehe, erklärte Staatsanwalt Frédéric Teillet. Der junge Mann sei vom Dach gestürzt und habe sich zunächst schwer verletzt. Am Freitagnachmittag sei er dann seinen Verletzungen erlegen.

45.000 Sicherheitskräfte in Frankreich im Einsatz

Unterdessen sollen die schweren Krawalle nach dem Tod eines Jugendlichen durch einen Polizeischuss mit mehr Polizeipräsenz eingedämmt werden. Innenminister Gerald Darmanin kündigt für Freitagabend den Einsatz von 45.000 Sicherheitskräften an. Diese seien im ganzen Land im Dienst, sagt er dem Sender TF1. Darunter seien auch Spezialeinheiten. Darmanin sprach von „außergewöhnlichen Mitteln“, konkretisierte das aber zunächst nicht.

Zudem soll es Einschränkungen des öffentlichen Lebens geben: Landesweit dürfen Straßenbahnen und Busse bis auf Weiteres nicht mehr nachts fahren. Nur die Metro in Paris soll davon nicht betroffen sein.

Auch der Verkauf von Feuerwerkskörpern, Benzinkanistern sowie entzündlichen und chemischen Produkten solle systematisch unterbunden werden. Die Regierung beschloss nach Angaben des Fernsehsenders auch die Absage von Großveranstaltungen.

1100
Menschen wurden festgenommen

Den nationalen Notstand rief die Regierung allerdings bislang nicht aus, ausgeschlossen ist dieser Schritt allerdings nicht. „Wir werden nach heute Abend sehen, wie sich der Präsident der Republik entscheidet“, sagt Innenminister Darmanin dem Sender TF1 unter Verweis auf Emmanuel Macron.

Die Polizei begann nach eigenen Angaben am Abend damit, Demonstranten vom Place de la Concorde in Paris zu räumen. Zuvor kam es dort zu Protesten. „Die Räumungsarbeiten auf dem Place de la Concorde sind im Gange“, teilt die Polizei mit. Der Place de Concorde ist der größte Platz der Hauptstadt.

Im Zentrum von Marseille plünderten Randalierer am Freitagabend ein Waffengeschäft. Sie hätten zwar einige Jagdgewehre mitgenommen, teilt die Polizei mit. Munition sei jedoch nicht entwendet worden. Eine Person sei mit einem Gewehr festgenommen worden, das wahrscheinlich aus dem dem Waffengeschäft stamme. Das Geschäft werde nun von der Polizei bewacht.

Mehr Polizisten werden mobilisiert

Nach der dritten Nacht mit Unruhen in ganz Frankreich appellierte Präsident Emmanuel Macron am Freitag an das Verantwortungsbewusstsein von Eltern. Sie seien es, die ihre jugendlichen Kinder von der Teilnahme an Krawallen abhalten müssten.

Feuerwehrleute löschen ein nach den Unruhen ausgebrochenes Feuer in einem Büro einer französischen Bank.

© IMAGO/SNA/IMAGO/Evgeny Poloyko

Der Präsident machte auch die sozialen Netzwerke für die Gewalteskalation der vergangenen Tage verantwortlich. Dort seien gewalttätige Versammlungen organisiert worden. Er forderte die Onlinenetzwerke zum Löschen von „besonders sensiblen“ Inhalten zu den Ausschreitungen auf.

Außerdem habe er das Gefühl, dass einige Jugendliche auf der Straße Videospiele nachahmten. Macron kündigte an, dass die Behörden gegen Menschen vorgehen werden, die über die sozialen Netzwerke zu Krawallen aufrufen.

Premierministerin Élisabeth Borne hatte zuvor angekündigt, „alle Hypothesen“ zu prüfen, um schnell wieder zur „republikanischen Ordnung“ zurückzukehren – auch die Ausrufung des landesweiten Notstands hatte sie nicht ausgeschlossen. Die französische Regierung entschied sich zunächst jedoch dafür, den Einsatzkräften den Rücken zu stärken und dem Innenministerium „zusätzliche Mittel“ zur Verfügung zu stellen. Was das konkret bedeutet, blieb zunächst unklar.

Polizist in Untersuchungshaft

Auslöser der Unruhen war der Tod eines Jugendlichen. Eine Motorradstreife in Nanterre bei Paris hatte den 17-jährigen Nahel am Dienstagmorgen am Steuer eines Autos gestoppt. Als der junge Mann plötzlich anfuhr, fiel ein tödlicher Schuss aus der Dienstwaffe des Polizisten. Gegen den Beamten wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags eingeleitet, er kam in Untersuchungshaft. Der Einsatz der Waffe bei der Kontrolle war nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft nicht gerechtfertigt.

Seitdem wird Frankreich von heftigen Unruhen erschüttert. Im Großraum Paris und in weiteren Städten gab es von Donnerstag auf Freitag in der dritten Nacht in Folge Ausschreitungen. Knapp 2000 Autos gingen in Flammen auf und an rund 500 öffentlichen Gebäuden wie Polizeiwachen und Rathäusern wurde Feuer gelegt und Polizisten wurden mit Feuerwerkskörpern angegriffen.

In der Hafenstadt Marseille wurden nach Angaben der Verwaltung „Dutzende Geschäfte“ beschädigt und manche von ihnen geplündert. 14 Autos seien angezündet worden.

Ein Auto brennt bei Protesten in Argenteuil am Stadtrand von Paris.

© IMAGO/ABACAPRESS/IMAGO/Villette Pierrick/ABACA

In Paris wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft etwa 40 Geschäfte beschädigt. Mehrere Städte um Paris verhängten Ausgangssperren. Der Bus- und Straßenbahnverkehr in der Hauptstadtregion blieb am Freitag nach Angaben des Verkehrsunternehmens RATP „stark gestört“, nachdem ein Dutzend Fahrzeuge in der Nacht in einem Depot in Brand gesteckt und manche Strecken blockiert oder beschädigt worden waren.

Nach Angaben des Innenministeriums wurden 1100 Personen festgenommen, darunter viele junge Menschen. 249 Polizisten und Gendarmen seien verletzt worden, allerdings nicht schwer. Landesweit waren in der Nacht 40.000 Polizisten im Einsatz, um sich den Ausschreitungen entgegenzustellen, 5000 davon in Paris.

Mutter des Toten geht von rassistisch motivierter Tat aus

In ihrem ersten Medieninterview seit dem Tod ihres Sohnes sagte die Mutter Mounia, sie gehe von einer rassistisch motivierten Tat aus, mache aber nicht die Polizei als Ganzes dafür verantwortlich. „Ich gebe nicht der Polizei die Schuld, ich gebe einer Person die Schuld“, sagte sie im am Donnerstagabend ausgestrahlten Gespräch mit dem Sender France 5. Der Polizist habe „das Gesicht eines Arabers gesehen, einen kleinen Bengel, und wollte ihm das Leben nehmen“, sagte sie.

Nach Angaben seines Anwalts Laurent-Franck Liénard bat der Beamte im Polizeigewahrsam die Familie des Opfers um Verzeihung. „Die ersten Worte“, die der Polizist gesagt habe, „waren, sich zu entschuldigen, und die letzten, die er gesagt hat, waren, sich bei der Familie zu entschuldigen“, sagte der Anwalt dem Fernsehsender BFMTV.

UN-Experten fordern Polizeireform

Ob Macron seinen für kommende Woche geplanten Staatsbesuch in Deutschland absagen wird, ist offen. Regierungssprecher Steffen Hebestreit sagte, er habe dazu im Augenblick keine Informationen. Die Bundesregierung blicke mit einer „gewissen Sorge“ auf die aktuellen Ereignisse in Frankreich.

Das UN-Menschenrechtsbüro in Genf rief die französische Polizei angesichts der Unruhen auf, sich mit Rassismus in den eigenen Reihen auseinanderzusetzen. „Dies ist der Zeitpunkt für das Land, sich ernsthaft mit den tiefgreifenden Problemen von Rassismus und Diskriminierung in den Strafverfolgungsbehörden auseinanderzusetzen“, sagte eine Sprecherin am Freitag in Genf.

Das Pariser Außenministerium wies den Vorwurf zurück. „Jegliche Anschuldigungen, dass die Polizei in Frankreich systematisch Rassismus oder Diskriminierung betreibt, sind völlig unbegründet“, hieß es. „Frankreich und seine Ordnungskräfte kämpfen entschlossen gegen Rassismus und alle Formen der Diskriminierung.“

Die Ereignisse haben bei vielen Franzosen Erinnerungen an die wochenlangen Unruhen von 2005 geweckt. Sie waren durch den Tod zweier Jugendlicher ausgelöst worden, die sich vor der Polizei in einem Trafohäuschen versteckt hatten. (dpa, AFP)

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