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Was bedeutet strategische Autonomie der EU im Hinblick auf Beziehungen zu den USA und China?

© Getty Images/fStop/Malte Mueller

Wettbewerb der Systeme: Wie „strategische Autonomie“ der EU geht

Europa sollte seine Handelsbeziehungen weiter diversifizieren, sich aber nicht von den USA abgrenzen. Eine Handlungsanleitung.

Ein Gastbeitrag von Jörg Rocholl

Kaum ein Begriff ist in Europa so umstritten wie die „strategische Autonomie“ – und kaum jemand versteht, was damit eigentlich gemeint ist. Die Ansichten Deutschlands und Frankreichs jedenfalls scheinen sich in dieser Frage diametral gegenüberzustehen.

Während der französische Präsident Emmanuel Macron strategische Autonomie fordert und Europa damit als dritte Supermacht neben den USA und China positionieren will, steuert Bundeskanzler Olaf Scholz eine multipolare Welt an. Wie steht es also mit der strategischen Autonomie, und welche Rolle soll Europa in der Welt spielen?

Klar ist, dass Europa wirtschaftlich stärker werden muss. Die Tatsache, dass die wertvollsten Unternehmen in den USA und China beheimatet sind, aber nicht in Europa, kann dem europäischen Anspruch nicht gerecht werden. Ebenso wenig ist es akzeptabel, dass die wertvollsten Start-ups vor allem in den USA und China und erst allmählich auch in Europa entstehen. Es ist auch kein Ausdruck von Zukunftsfähigkeit, dass Europa gegenüber den USA und China bei neuen Patenten zurückfällt.

Private Unternehmen sind Chinas Wachstumstreiber

Bei aller Einigkeit in der Analyse beginnt die Diskrepanz schon bei der Frage nach den Implikationen. Denn allzu oft herrscht in Europa der Eindruck vor, Chinas Präsident Xi Jinping müsse nur bestimmte Hebel bewegen, damit sich der wirtschaftliche Erfolg einstelle.

Das aber ist falsch. Es sind vor allem dynamische private Unternehmen, die Chinas Wachstum treiben, nicht die Staatsunternehmen. Und diese privaten Unternehmen profitieren ebenso wie ihre amerikanischen Wettbewerber vom großen Heimatmarkt, technologischer Innovation und ernsthaften Ambitionen.

Die europäische Antwort muss also in erster Linie darauf hinauslaufen, die Skalierung von Geschäftsmodellen zu ermöglichen sowie Effizienz und Innovation zu stärken. Dafür bietet der Europäische Binnenmarkt geradezu ideale Voraussetzung.

Auf Augenhöhe agieren, nicht als Supermacht

Die Skalierung geht aber über Europa hinaus. Erst mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist dem alten Kontinent hinreichend bewusst geworden, dass man umfassende Handelsabkommen mit anderen Regionen der Welt abschließen sollte.

Denn solche Abkommen ermöglichen neue Absatzmärkte, Diversifizierung und Skalierung. Europa muss diesen Weg mit aller Kraft weiter beschreiten. Derzeit entstehen neue Kraftzentren in vielen Teilen der Welt, demografisch, ökonomisch und damit letztlich auch politisch.

Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, fordert lautstark mehr strategische Autonomie Europas.

© dpa/Laurent Cipriani

Die frühe Anbahnung von partnerschaftlicher Kooperation mit neuen Kraftzentren wird sich langfristig auszahlen. Europa dürfte diese Anbahnung deutlich leichter fallen, wenn es auf Augenhöhe mit den Partnern agiert – und nicht als Supermacht.

Engere Verflechtung mit Amerika – bevor Trump womöglich wieder an die Macht kommt

Im Begriff der strategischen Autonome schwingt – implizit oder explizit – häufig eine Abgrenzung gegenüber den USA mit, von der man sich emanzipieren müsse. Geht es um die militärische Seite, wäre es den USA nur recht, wenn Europa seinen sicherheitspolitischen Verpflichtungen in der Nato durch höhere Ausgaben gerecht würde.

Angesichts des Kriegs in der Ukraine wäre der Augenblick für eine Loslösung von den USA aber denkbar schlecht. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht kann die Devise nur eine stärkere Integration sein, selbst wenn die Chancen für eine erneute Präsidentschaft Donald Trumps steigen.

Joe Biden (r), Präsident der USA, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).

© dpa/AP/Pool/Susan Walsh

Selbst ausgewiesene Gegner eines transatlantischen Freihandelsabkommens mussten nach den umfangreichen Ankündigungen von Zöllen in Trumps erster Präsidentschaft einräumen, wie viel besser eine stärkere wirtschaftliche Integration mit den USA gewesen wäre.

Eine wirksamere und damit schwerer revidierbare wirtschaftliche Zusammenarbeit kann in diesem Sinne als kraftvolle Versicherung gegen politische Unwägbarkeiten wie einer zweiten Amtszeit Trumps dienen. Weitere Annäherung statt Abgrenzung wäre also das Gebot der Stunde.   

Verringerung der Rohstoffabhängigkeit

Zum umfassenden Verständnis von strategischer Autonomie gehören aber auch die Beschaffungsmärkte. Deutschland und Europa hatten sich in der Zeit vor dem 24. Februar 2022 in eine zu große Abhängigkeit von russischen Energielieferungen begeben.

Weitere Abhängigkeiten bei anderen kritischen Rohstoffen oder essentiellen Zulieferprodukten aus anderen Ländern kommen hinzu. An dieser Stelle kann strategische Autonomie im Sinne einer breiteren Diversifizierung der Beschaffungsmärkte tatsächlich positive Dinge bewirken. Innovation und Diversifizierung sollten also an die Stelle von Bestrebungen nach De-Coupling und Autarkie treten.

Die Diskussion über strategische Autonomie leidet allzu häufig unter Unklarheit. Sie umfasst vielfältige Fragen der Verteidigung, der Außenpolitik und der Wirtschaft.

Eine zukunftsgewandte Debatte sollte sich weniger auf dieses abstrakte Schlagwort konzentrieren – sondern konkreter betrachten, wie der Zusammenhalt Europas verbessert werden kann und wie Europa mit anderen Teilen der Welt stärkere partnerschaftliche Verbindungen schaffen kann. Die sind gerade in der heutigen Zeit wichtiger denn je, wirtschaftlich und politisch.

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