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Die iranische Filmkünstlerin Shirin Neshat spricht im Interview über ihre Lieblingsregisseure, den arabischen Frühling und subversive Kunst.

© AFP

Berlinale-Jurorin Shirin Neshat: „In meinen Filmen gewinnen immer die Frauen“

Die iranische Filmkünstlerin Shirin Neshat spricht im Interview über ihre Lieblingsregisseure, den arabischen Frühling und subversive Kunst.

Shirin Neshats Loft in Manhattans Chinatown geht direkt auf die Canal Street. Draußen dröhnt der Verkehr, drinnen geben altertümliche Heizkörper in unregelmäßigen Abständen Klopfgeräusche von sich. An den Wänden stehen einige jener Werke, mit denen die 1957 im Iran geborene Künstlerin internationale Berühmtheit erlangt hat: Großformatige Schwarz- Weiß-Porträts von Frauen mit und ohne Kopfbedeckung, die mit persischer Kalligrafie überschrieben sind. Neshat lebt seit 1979 in den USA. Doch ihr iranisches Erbe, die Gegensätze zwischen Religion und Säkularismus, Unterdrückung und Aufruhr sind zentral in ihrem Werk. Dazu gehören Videoinstallationen wie „Rapture“ (1999), in denen Frauen in wehenden Tschadors und dunkelhaarige Männer in Gruppen Strände entlanglaufen oder in Minarettruinen aufeinandertreffen. 2009 gewann Shirin Neshat für ihren ersten Spielfilm, die symbolistische Utopie „Männer ohne Frauen“ den Silbernen Löwen beim Filmfestival von Venedig. Bei der Berlinale sitzt sie in der Wettbewerbsjury.

Wann waren Sie zuletzt im Kino?
Vor wenigen Tagen habe ich einen wunderbaren Film mit Deborah Kerr aus den vierziger Jahren gesehen, „Schwarze Narzisse“, im Film Forum ...

... einem Studiokino hier in Manhattan...

... eines meiner Lieblingskinos. Ich bin ein richtiger Film-Junkie. Die großen Hollywood-Produktionen lasse ich in der Regel aus, neben Klassikern schaue ich mir vor allem europäische Filme an. Neulich sah ich „Amour“ von Michael Haneke.

Wie gefiel er Ihnen?

Hervorragend. Michael Haneke ist einer jener Filmemacher, die mich zutiefst berühren. Mich beeindruckt die Schlichtheit, mit der er moralische, psychologische, existenzielle Themen inszeniert, und wie es ihm in „Amour“ gelingt, ohne Musik und Szenenwechsel das Publikum zwei Stunden lang zu fesseln. Natürlich bewundere ich auch Altmeister wie Tarkowski oder die humanistische Kraft von Ingmar Bergman. Ein anderer schwedischer Regisseur, dem ich mich verbunden fühle, ist Roy Andersson. Seine Mise-en-scène ist fantastisch, seine Herangehensweise gleicht der eines Fotografen.

Wie kamen Sie selber von der Fotografie über Videoinstallationen zu Ihrem Filmdebüt „Women Without Men“?

Das war eine natürliche Entwicklung, obschon mir die einzelnen Schritte nicht leicht gefallen sind. Egal, wie viele Fotografien und Videoinstallationen man schon gemacht hat, die Sprache des Kinos ist eine andere als die der bildenden Kunst. Es geht ums Erzählen von Geschichten. Auch in meinen Fotografien und Videos erzähle ich Geschichten und setze die Macht der Bilder dazu ein. Aber die Vorgaben des Films sind strenger. Filme verlangen mehr Disziplin. Ich musste meine eigene Stimme finden. Ich wollte meine Handschrift als Künstlerin bewahren und zugleich die Möglichkeiten des Films nutzen, ohne einfach andere Regisseure nachzuahmen.

Was reizt Sie am Film?

Das Publikum ist bereit, einem Film seine Aufmerksamkeit ein, zwei Stunden lang zu widmen. In einem Museum verbringen Besucher viel weniger Zeit mit einem Kunstwerk, das überdies mit allen anderen Werken dort konkurrieren muss. Beim Kino bestehen keine Schwellenängste. Filme sind nicht so elitär wie die bildende Kunst. Für zwölf Dollar geht jeder mal ins Kino. Ins Museum nicht. Mir gefällt auch, dass man Filme nicht kaufen kann. Ihnen fehlt der Warencharakter. Mit Filmen kann ich ein breiteres Publikum erreichen, und ich habe mehr Zeit, meine Geschichten zu erzählen.

Welche Art von Geschichten möchten Sie erzählen?

Seit zweieinhalb Jahren arbeite ich an einem neuen Projekt, einem Film über die 1975 verstorbene ägyptische Sängerin Umm Kulthum. Sie gilt in der gesamten arabischen Welt bis heute als bedeutendste Künstlerin des 20. Jahrhunderts. Wie ich versuchte Kulthum, die Herzen und den Verstand der Menschen zu bewegen. Wie ich sah sie sich zwischen Kunst und Politik, zwischen Selbstverwirklichung und sozialer Verantwortung hin- und hergerissen. Ihr ist dieser Spagat gelungen.

Weshalb haben Sie sich einer politischen Lesart Ihres Werkes immer widersetzt?

Als Iranerin wird mein Leben von der Politik definiert, und ich trenne mein Leben nicht von meinem Werk. Ich lebe zwar schon seit Jahrzehnten in der Diaspora, aber es gibt ein Sprichwort, wonach man einen Iraner aus dem Iran nehmen kann, nicht aber den Iran aus einem Iraner. Das stimmt. Dennoch vermittle ich in meinen Werken keine politischen Botschaften. Gute Kunst ist nicht tendenziös. Mein Werk hat auch keinen dokumentarischen Charakter. Realismus ist nicht mein Ding. Als Künstlerin fühle ich mich zu Metaphern und Stilisierung hingezogen, die das Hier und Jetzt transzendieren. Damit drücke ich aus, was in der Luft liegt, ohne einfach die Wirklichkeit abzubilden.

Als politische Aktivistin sind Sie in New York zum ersten Mal 2009 anlässlich der Grünen Revolution im Iran aufgetreten. Haben Sie sich seither aus Resignation wieder ins Studio zurückgezogen?

Ich habe mich nicht zurückgezogen. Ich ging für meinen Film über Umm Kulthum nach Ägypten. Dabei geriet ich mitten in die Revolution.

Sind Sie mit den Leuten auf die Straße gegangen?

Ich wurde Zeugin der Ereignisse. Eben war ich wieder da und bin mit neuen Foto- und Videoarbeiten zurückgekehrt, die die Ernüchterung spiegeln, der die enthusiastische Aufbruchsstimmung von damals gewichen ist. Ich brauche mein Studio, um Abstand zu gewinnen, aber ich würde Werke nie nur aufgrund von Zeitungsartikeln produzieren.

Welche Rolle spielt Kunst für die Reformbewegungen in den arabischen Ländern?

Darüber spreche ich oft mit meinen Freunden. Wir vergleichen die amerikanische Kultur mit all ihren Freiheiten und die iranische mit all ihren Einschränkungen. In den Vereinigten Staaten wird vor allem Unterhaltung produziert. Im Iran bringen Künstler Werke hervor, die zwar die Regeln des Regimes nicht brechen, aber so stark und subversiv sind, dass sie von der Regierung trotzdem als Bedrohung wahrgenommen werden. Gute Künstler sind Seismografen der Gegenwart und drücken die Gefühle des Volkes aus. Das ist ihr Beitrag zur Revolution.

Wie werden Ihre Werke im Iran rezipiert?

Mein Werk sorgt überall für Kontroversen. Ich habe im Iran viele Fans und ebenso viele Kritiker. „Women Without Men“ durfte nicht gezeigt werden, fand aber auf DVDs Verbreitung und wurde heftig diskutiert. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, als Künstlerin auch in meiner Heimat eine Stimme zu haben.

Eine Stimme für die Frauen, die Sie ja in allen Ihren Arbeiten prominent inszenieren?

Die Rolle der Frauen in meinem Werken wird im Westen missverstanden. Ich stelle die Frauen nie als Opfer dar. Nie. Sie protestieren und fordern Autoritäten und die Männerwelt immer heraus. Meine Frauen sind die Gewinnerinnen. Natürlich weiß ich, dass Frauen in Wirklichkeit von der arabischen Gesellschaft und der Religion weit stärkerem Druck ausgesetzt sind als Männer. Aber arabische Frauen unterwerfen sich nichts und niemandem. Sie kämpfen. Und im Gegensatz zu den Frauen hier im Westen wollen sie nicht so sein wie die Männer. Sie wollen dieselben Rechte, bestehen jedoch auf ihrer Sinnlichkeit, auf ihrem Frausein. Das ist eine ganz neue Art von Feminismus.

Worauf freuen Sie sich bei der Berlinale am meisten?

Ich bin sehr gespannt auf den neuen Film meines Freundes Jafar Panahi. Er ist einer jener Menschen, die ihr Leben für ihre Kunst riskieren und der Welt immer wieder beweisen, dass Iran auch ein Land mit einer reichen Kultur ist.

Das Gespräch führte Sacha Verna

Von Sacha Verna

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