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© ddp

Berlinale: Masse oder Klasse

Dieter Kosslick macht die Berlinale immer populärer. Das ist schön. Der Wettbewerb aber verliert an Niveau.

Wenn der Berlinale in diesen Tagen zum Sechzigsten so mancher Lorbeerkranz gewunden wird, so hat daran ihr Chef Dieter Kosslick keinen geringen Anteil. Im Mai geht das Vertragsverhältnis mit dem gern gutgelaunt auftretenden Filmzirkusdirektor ins zehnte Jahr, und tatsächlich haben die durchaus zahlreichen Blamagen, die sich in seiner Regentschaft zugetragen haben, der Popularität des 61-Jährigen nichts anhaben können. Die Doppelstrategie, mit der er antrat, funktioniert nach wie vor: hier die Umarmung des hochverehrten Publikums, dort die Umarmung der deutschen Filmemacher, vom Nachwuchs bis zum Routinier.

„Ein bisschen wie der Potsdamer Platz, der Hamburger Hafen, der Viktualienmarkt in München, die Thomaskirche in Leipzig, die Maultaschen in Stuttgart und der Karneval in Köln“: So hübsch tönte Kosslicks offiziöses Bewerbungsschreiben, als der Tagesspiegel vor zehn Jahren zur Berlinale Promis nach ihren Wünschen an die künftige Festivalleitung befragte. Der damalige Leiter der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen hatte zudem in petto: „Groß, stark, mächtig, gläsern, kosmopolitisch, witzig“ sollte sie sein und damit das Berlinale-Image prägen. Witzig ist ihr Chef nach wie vor, größer ist das Festival allemal geworden. Aber auch kosmopolitischer?

Im Gegenteil: Im zutiefst sozialdemokratisch geprägten Bemühen, als Filmvolksbeglücker aufzutreten, parzelliert Kosslick die Berlinale in immer neue Reihen – mit der Folge, dass die Klasse in der Masse fast verschwimmt. Schwerwiegender noch: Indem er, als oberster Lobbyist des deutschen Films, den heimischen Kinomachern rote Teppiche in Serie ausrollt – von der Perspektive Deutsches Kino bis zu den Galas im Friedrichstadtpalast – , provinzialisiert er die Internationalen Filmfestspiele. Tatsächlich verliert die Berlinale für die Großen der Filmkunst zunehmend an Attraktivität. Und der Wettbewerb, die Königsdisziplin jedes Festivals, verödet.

Schon ein schneller Blick auf den allerneuesten Wettbewerb verdeutlicht dies. Mit Ausnahme von Michael Winterbottom hat das Festival keinen Regisseur der ersten Garde gewinnen können, der noch in seinen besten Jahren wäre. Die Altmeister Roman Polanski und Martin Scorsese benutzen das glamouröse Ereignis als Startrampe für ihre noch im Februar im Kino startenden Filme. Mit den Bären-Gewinnern Wang Quan’an („Tuyas Hochzeit“, 2007) und Jasmila Zbanic („Grbavica“, 2006), auch mit Rafi Pitts und Pernille Fischer Christensen pflegt das Festival eigene Entdeckungen. Der überwiegende Rest sind – durch die Berlinale hoffentlich groß werdende – Unbekannte. Damit bewegt sich der Wettbewerb etwa auf dem Niveau, das dem honorigen Festival von Locarno entspricht, in nationalem Maßstab erinnert es an das Nachwuchsfestival Saarbrücken: Benjamin Heisenberg präsentiert mit „Der Räuber“ seinen zweiten Film, Burhan Qurbanis „Shahada“ ist eine Diplomarbeit der Filmakademie Baden-Württemberg.

Mag sein, dass in zehn Tagen alle Fachwelt über die Auswahl jubelt, die Erwartungen aber sind gedämpft wie selten zuvor. Tatsächlich wirkt der Wettbewerb mittlerweile wie das Stiefkind der Großfamilie Berlinale. Bei der jüngsten Pressekonferenz fiel Dieter Kosslick einmal mehr durch sein geringes Interesse an der genuin durch ihn verantworteten Hauptsektion auf – wie er überhaupt selten mit cineastischer Verve für seine Auswahl eintritt. Stattdessen verkündete er stolz, dass ein erstes Kartenkontingent der Programmsektion Kulinarisches Kino, in der Spitzenköche nach gehabter Filmvorführung zum Menü bitten, ratzeputz ausverkauft gewesen sei. Dabei sei da noch kein einziger Filmtitel der Reihe bekannt gewesen.

Wie furios dagegen hatte die Ära Kosslick angefangen – auch in Sachen Wettbewerb! Die ersten drei Jahrgänge lebten wunderbar davon, dass Kosslick die mit seinem Vorgänger Moritz de Hadeln dauergrollenden deutschen Filmemacher zurück ins Boot geholt hatte – der Goldene Bär für Fatih Akins „Gegen die Wand“ 2004 wirkte wie der krönende Abschluss dieser Charmeoffensive. Zudem profitierte die Berlinale damals von konzeptionellen Malaisen ihrer Hauptkonkurrenten: In Cannes mochte der greise Gilles Jacob das Ruder nur zögernd an den brillanten Thierry Frémaux abgeben, und Venedig freundete sich nach einem ambivalenten De-Hadeln-Intermezzo ebenso zögernd mit Marco Müller an, der sich als Chef in Locarno hohes Renommee erworben hatte. Nur eine hässliche Panne ist aus jenen Jahren erinnerlich, und sie war gewiss nicht Kosslicks Schuld: Dass 2004 mit Nicole Kidman und Jude Law die Stars des Eröffnungsfilms fehlten, lag daran, dass die Oscar-Gala vorverlegt worden war und die siebenfache Nominierung für „Cold Mountain“ allerlei Star-Präsenz zu Hause verlangte.

Der frühere Oscar-Termin ist für Berlin ein Dauerproblem geblieben – alle anderen Nöte sind hausgemacht. Auch bei der Auswahl der Juroren setzt Kosslick oft auf Massengeschmack: Unvergessen die Jury 2005 unter Roland Emmerich, der der Modeschöpfer Nino Cerruti und die stets leichtbekleidete Schauspielerin Bai Ling angehörten und die – der Goldene Bär ging an die Township-„U-Carmen“ – mit einer der sonderbarsten Jury-Entscheidungen der Weltfestivalgeschichte endete. Nicht nur, dass Kosslick, anders als Thierry Frémaux, der die Cannes-Jury exklusiv für Film- und andere Großkünstler reserviert, mit der Einladung an Produzenten und Kinomacher gerne die kommerzielle Seite der Filmkunst berücksichtigt. Auch sonst setzt er, etwa bei der Wahl der filmferneren Jury-Jobs, aufs Gängige. 2009 lud er den Bestsellerfabrikanten Henning Mankell in die Jury ein, was eher schmerzhaft daran erinnerte, dass Cannes 2007 mit Nobelpreisträger Orhan Pamuk geprunkt hatte. Und die neue Jurorin Cornelia Froboess rühmt Kosslick nicht wegen ihrer Theaterkarriere, sondern – „Pack die Badehose ein!“ – als das trällernde Kinderstar-Idol der fünfziger Jahre.

In der Tat sieht man der Verkündung der Jury-Namen seit Jahren mit einer gewissen Bangnis entgegen. So nebensächlich vielen Zuschauern dieser Aspekt des Festivals erscheinen mag: Laxheit setzt gerade hier einen Teufelskreis in Gang. Schwache Jurys führen zu schwachen Entscheidungen. Dies schwächt die Attraktivität der nächsten Wettbewerbe und wiederum den Reiz, deren Auswahl zu bewerten. Da kann es dann schon mal vorkommen, dass Juroren am Eröffnungstag absagen – wie 2007 die Regisseurin Susanne Bier und die Schauspielerin Sandrine Bonnaire. Besonders bittere Pointe: Bonnaire gab noch während der Berlinale Interviews anlässlich ihres Regie-Erstlings, den das Festival extra zu ihren Ehren eingeladen hatte.

Worin besteht heute das Besondere der Berlinale, deren einstiges Alleinstellungsmerkmal als „politisches Festival“ längst im Weichbild des dynamischen Cannes und eines wiedererstarkten Venedig verschwimmt? Derzeit am ehesten in der Funktion als Plattform für Erst- oder Zweitlingsfilme: Mitfinanziert vom eigens gegründeten World Cinema Fund, gewinnen sie dann, wie zuletzt „Eine Perle Ewigkeit“ der Peruanerin Claudia Llosa, mit ein bisschen Glück und Liebe den Goldenen Bären.

Für den exklusiven Club der A-Festivals mit Wettbewerb und Weltpremieren ist das allerdings längst zu wenig. Die Alternative hieße, die offenbar ungeliebte Königsdisziplin ganz abzuschaffen – und sich, wie das vergleichsweise junge Festival von Toronto, auf den Filmmarkt und die Freude an Hunderttausenden von verkauften Tickets zu konzentrieren. Das wäre dann wohl endlich Dieter Kosslicks sorgenfreie, chancengleiche, brüderliche Publikumsberlinale. Aber es wäre nicht mehr die Berlinale.

Der Chef zeigt viel Leidenschaft fürs Kulinarische Kino – und nur

wenig für die Filmkunst 

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