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Radfahrer auf dem Alfred-Lion-Steg, der die Schöneberger Insel mit der Gartenstadt von Neu-Tempelhof verbindet.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Brücken (4): Lass es schwingen: Der Alfred-Lion-Steg und sein Namensgeber

Der Alfred-Lion-Steg ist noch kein Jahr alt, er verbindet die Rote Insel in Schöneberg mit Neu-Tempelhof. Um seinen Namen gab es Streit. Denn Alfred Lion, ein von Nazis vertriebener jüdischer Jazzpionier, ist nicht der einzige im Marlene-Dietrich-Kiez, an den erinnert werden sollte.

Er ist schmal und nur zu Fuß oder vorsichtig per Rad zu überqueren. Er ist keine 100 Meter lang, und dennoch überspannt er Abgründe. Der Alfred-Lion-Steg verbindet die Schöneberger Insel mit NeuTempelhof, dazu schwingt er sich über die Gleise der Dessauer und Anhalter Bahn. Züge rattern unter seinem Stahlrohrfachwerk, das Südkreuz ragt auf der einen Flanke empor, während die andere den Blick freigibt zum Potsdamer Platz.

Der Steg ist noch jung, seit November 2012 ist er offiziell eröffnet. Um die Namensgebung gab es bis zuletzt Gerangel im vereinigten, aber keineswegs vereinten Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Hätte Alfred Lion, der am 21. April 1908 als Alfred Loew gleich um die Ecke in der Gotenstraße 7 geboren wurde, davon erfahren, er hätte auf diese Ehrung wohl freiwillig verzichtet.

Auf der Roten Insel aufgewachsen, in Nachbarschaft zu Marlene Dietrich, gelangte auch Lion zu Weltruhm. Nicht unter seinem Namen, sondern unter der Marke, die er zusammen mit seinem Jugendfreund Francis Wolff in New York schuf: Blue Note Records avancierte unter Führung der beiden musikbesessenen Exilberliner zum einflussreichsten Jazzlabel seiner Zeit. „The Finest In Jazz Since 1939“, wie ihr Slogan es elegant formuliert.

Alfred Lion muss emigrieren und gründet in Amerika ein Jazzlabel

Lion, ein an Privatschulen umfassend gebildeter jüdischer Jugendlicher, verfällt früh der Magie schwarzer Musik. Als 16-Jähriger erlebt er die Revue „Chocolate Kiddies“ im Admiralspalast, mit dem Pianisten Sam Wooding als Bandleader. „Es war Beat, es fuhr mir tief in die Knochen“, erinnert sich Lion später. Fortan schult er seine Ohren und bringt von einer Amerikareise über 300 Schellackplatten heim nach Berlin. Doch die „Goldenen Zwanziger“ verrinnen, und was die Wirtschaftkrise von ihrem schnelllebigen Glanz noch übrig gelassen hat, wird alsbald von den Nazis ausgemerzt. Lion, der noch Loew heißt, muss mit seiner Mutter emigrieren, zuerst nach Chile, bevor er in New York den Emigration Officer passiert. Auch Francis Wolff gelingt die Flucht über den Atlantik, in letzter Sekunde. „The Lion and the Wolff“ gründen ihr eigenes Jazzlabel: Alfred produziert die Aufnahmen, die meist in den frühesten Morgenstunden stattfinden, nachdem die Musiker ihre Sets in den Clubs gespielt haben, Francis fotografiert die Sessions.

Blue Note setzt in jeder Hinsicht ästhetische Maßstäbe – und menschliche. Alfred bewirtet seine Musiker nicht nur ausgiebig, er zahlt ihnen auch Probesitzungen. So etwas gibt es in der Branche bislang überhaupt nicht. Er hält ihnen die Treue, auch wenn sie Flopps landen oder die falschen Drogen nehmen. Fotos zeigen Alfred Lion als einen kompakten Mann mit dicker Brille und sanftem Lächeln, der ganz seiner Leidenschaft lebt, dem alltäglichen Rassismus der amerikanischen Plattenindustrie zum Trotz. Seine Helden sind schwarz, und sie dürfen die Blue-Note-Cover prägen, als passionierte, gedankenstarke Musiker von Fancis Wolff in Szene gesetzt.

Die Künstler, die Aufnahmen, die durchwachten Nächte in Zigarettenrauch, das ist das Leben für Lion. Seine erste Ehe scheitert daran, seine zweite Frau Ruth heiratet ihn erst, als er 1967 seine letzte Blue-Note-Session aufgenommen hat. Einen Berliner Tonfall soll Alfred auch als US-Bürger immer behalten haben – und der blitzt vor allem bei seinem Credo durch: „It must schwing!“ 1987 starb er in San Diego, Kalifornien.

Der Steg verbindet das einstige Nazi-Viertel mit dem Kiez, in dem der Widerstand wohnte

Warum also nicht Alfred Lion einen Steg widmen, diesem Menschenfreund und großen Musiker, der nie ein Instrument spielte, aber seinen Ohren traute? Ganz ohne zu zögern? Der Grund liegt auch im Abgrund, den der Alfred-Lion-Steg überspannt, in den Verwerfungen zwischen dem preußischen Militärgebiet rund um das Tempelhofer Feld und der Roten Insel, zwischen Reaktion und Aktion. Spuren davon sind überall zu finden. Überquert man den Steg nach Tempelhof, erstreckt sich linker Hand eine Kleingartenkolonie, an deren Spitze ein gewaltiger Betonzylinder aufragt. Die Kolonie entstand aus der Not: Der nicht zu gewinnende Erste Weltkrieg ließ die Lebensmittel so knapp werden, dass das Militär seinen Angehörigen Land zur Bewirtschaftung abtrat.

Ein Foto von Alfred Lion am Brückengeländer, bei der Einweihung 2012.
Vor der Einweihung 2012 gab es Streit um den Namen des Stegs. Sollte er nach dem jüdischen Jazzpionier Alfred Lion oder der mutigen Bibliothekarin Hertha Block benannt werden?

© Kitty Kleist-Heinrich

Der Betonkoloss gehört zu noch ungeheuerlicheren Visionen. Die 120 Meter breite Hauptachse von Hitlers Welthauptstadt „Germania“ sollte in der Nähe des heutigen Südkreuzes einen gewaltigen Triumphbogen erhalten, das „Bauwerk T“, 130 Meter hoch. Ob der Berliner Grund es tragen könnte, das sollte der Schwerbelastungskörper erweisen. Noch ist er da, kann sogar von einem Gerüst aus betrachtet werden, der Verein Berliner Unterwelten bietet Erkundungen an.

Wer über den Alfred-Lion-Steg nach Neu-Tempelhof kommt, gelangt vorbei am ehemaligen Kasernengelände über die Gontermannstraße in eine Siedlung, die heute als Fliegerviertel bekannt ist. Vor allem seit der Flugbetrieb in Tempelhof ruht, erfreut sich das Quartier regen Zuspruchs. „Eigener Herd ist Goldes wert“ heißt es in einer Verkaufsbroschüre für die Gartenstadt Neu-Tempelhof aus dem Jahr 1925. Nicht die typischen Berliner Mietskasernen sollen hier das Stadtbild prägen, sondern eine ums Grün herum geplante Siedlung. Ursprünglich sind 2000 Einfamilienhäuser für Kriegsheimkehrer geplant, die Hälfte wird gebaut, die verbleibende Fläche wird in den 20er und 50er Jahren weiter bebaut – beworben als zentrale, verkehrsgünstige und doch grüne Lage. Die hat Neu-Tempelhof mit der Nähe zum Bahnhof Südkreuz heute wieder – und das Tempelhofer Feld dazu.

Auch Hertha Block, die mutige Bibliothekarin, darf nicht vergessen werden

Doch so licht die Gartenstadt im Sonnenlicht erscheinen mag, ein dunkler Schatten liegt über den Straßenzügen. Sie tragen die Namen von Fliegeroffizieren des Ersten Weltkriegs, von jungen Kerlen, die sich mit der neuen Flugzeugtechnik zu Rittern der Lüfte aufschwangen. Kaum 20 Jahre alt, sind sie dann schwer mit Orden behängt am Boden zerschellt. Das „Dritte Reich“ entdeckt in ihnen opfermütige Helden, Vorbilder für die Jugend. Der 21. April, Todestag des Kampffliegers Manfred von Richthofen, wird 1936 zum „Tag der deutschen Luftwaffe“ ernannt. An diesem Tag erhalten 16 Tempelhofer Straßen Namen von „Fliegerhelden“ des Ersten Weltkriegs. Initiator dieser Umbenennungen ist der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, ehemals Offizier der kaiserlichen Luftwaffe.

Jenseits des Alfred-Lion-Stegs wiederum, auf der Roten Insel, hat es immer linken Widerstand gegen die Nazis gegeben. Gleich 1933 treibt die SA unliebsame Oppositionelle zusammen und misshandelt sie in den Kellern einer ehemaligen Kaserne. Heute erinnert eine Ausstellung im Werner-Voß-Damm 54a daran. Auch die Bibliothekarin Hertha Block, die im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller aktiv ist, wird hier eingekerkert. Nach dem Krieg beteiligt sie sich an der Wiederaufarbeitung der vor den Nazis versteckten Bücher und baut Stadtteilbibliotheken auf.

Wie sollte der Steg von der Roten Insel nach Neu-Tempelhof am besten heißen? Nach Hertha Block? Nach Alfred Lion? Die Lösung, salomonisch: Die Hertha-Block-Promenade rahmt den gesamten Ost-West-Grünzug und damit in ihrer Mitte auch den nach Lion benannten Steg. Wer auf ihm zu blauer Stunde steht, über den Gleisen, kann dann und wann einer Nachtigall lauschen.

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