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Hommage an eine Primaballerina. In Raimund Hoghes Stück „Canzone per Ornella“ spielen sich die einstige Solotänzerin und der deutsche Choreograph selbst.

© Bertrand Langlois / AFP

Bilanz Theaterfestival Avignon: Arche Noah im ewigen Eis

Das Grauen der Gegenwart und die Komik des Blicks: Das Theaterfestival in Avignon endet mit einer Hommage an den Tanz.

Auf den Blick in die finstere Gegenwart folgt ein befreiendes Lachen. Das Theaterfestival in Avignon, das an diesem Dienstag zu Ende geht, stellt „Arctique“ als letzte große Gastspiel-Premiere an den Schluss dieser Festival-Ausgabe. Regie führt die belgische Theatermacherin Anne-Cécile Vandalem.

Wir schreiben das Jahr 2025, die „Arctic Serenity“ dümpelt im Nordmeer. Ein Schlepper hat das einst verunglückte Kreuzfahrtschiff noch einmal hierher gezogen. An Bord sechs Menschen, die einer Einladung in anonymen Briefen gefolgt sind, und ein lebensgroßer Eisbär. Das Ergebnis: ein urkomischer Thriller.

Regisseurin Vandalem hatte in Avignon vor zwei Jahren mit „Tristesses“ für eine Überraschung gesorgt; ihre Farce über die neue rechte Politik war anschließend auch an der Berliner Schaubühne zu sehen. Jetzt also der Blick auf eine Umweltkatastrophe, eine geschlossene Gesellschaft mit lauter (exzellent verkörperten) Figuren, die mit einer Havarie vor zehn Jahren zu tun hatten. Nachdem das Abschmelzen der Pole die legendäre Nordwestpassage möglich machte, sollte die „Arctic Serenity“ im Eismeer ihre Jungfernfahrt absolvieren. Dabei rammte sie eine Ölplattform. Beteiligt war auch eine obskure Terrororganisation, die den Ausverkauf Grönlands an ein rohstoffsüchtiges Kartell anprangerte.

Geschichten von Gewalt, Katastrophen und Terror

Anne-Cécile Vandalem hat für ihr Stück in Grönland recherchiert, einer wegen der Rohstoffe geopolitisch umkämpften Region, in der das Leben der Inuit vollständig umgekrempelt wird. Die Regisseurin destilliert aus ihrer Recherche jedoch kein Doku-Theater, sondern in einen mit urkomischen Momenten angereicherten Umweltthriller, der sich beim Genrekino bedient und Horror- wie Mystery-Elemente einbaut. Auch Stanley Kubricks „Shining“ steht Pate, wenn die Videokamera die Schauspieler in den Gängen begleitet, die die Bühne flankieren. Zu sehen ist ein Art-Deco-Salon mit Musikband im Hintergrund und einer wunderbar singenden Véronique Dumont, die sich bei dieser rätselhaften Mission als Racheengel erweisen wird.

Die Beziehungen der Passagiere auf diesem Narrenschiff werden zunehmend paranoid, zumal sich auf dieser Reise ins Unbekannte auch noch ein ziemlich putziger Eisbär über eine Passagierin hermacht. Der Geist des einstigen Havariekapitäns taucht auf, und das Schiff schlingert ungesteuert ins ewige Eis, den kalten Tod – eine dystopische Arche Noah. So wird die „Arctic Serenity“ zum Strafgericht für die Hoffart der Menschheit. Anne-Cécile Vandalem entsorgt sie in den selbst verschuldeten Untergang. Wie gesagt, es darf gelacht werden. Vielleicht ja auch bei einem Wiedersehen beim nächsten „Find“-Festivals an der Schaubühne?

Zum Lachen war dem Publikum dieses Jahr in Avignon ansonsten nicht zumute. Das Festival versammelte Geschichten von Gewalt, Katastrophen, Terror und Diskriminierung; konventionelle Stücke waren wenige dabei. Nur Festivaldirektor Olivier Py werkelt weiter an zeitgenössischer Dramatik mit weltumfassenden Themensetzungen, und die erfolgreichen Produktionen zeichnen sich durch Anleihen bei der Oper oder beim Kino aus.

Al-Attars Stück „Mama“ handelt von den Machos der arabischen Welt

Selten geworden sind die alten Tugenden der Sprechbühne, wie sich etwa noch in Ahmad Al-Attars Konversationsstück „Mama“ finden. Der ägyptische Regisseur erlaubt sich darin einen kritischen Blick auf die Gefühlswelten der arabischen Mutter. Diese sitzt, gespielt von der wunderbaren Menha El Batraoui, auf ihrem Rokoko-Fauteuil und hält Hof. Die Schwiegertochter wird in Erziehungsfragen belehrt, der Enkel gehätschelt, die Enkelin gemaßregelt. Ihren Sohn Karim hat sie nie aus der Abhängigkeit entlassen.

El-Attar erzählt in „Mama“ vom Alltag einer wohlhabenden Kairoer Familie. Ihn interessiert, welche Rolle die Mütter bei der Erziehung der kleinen Machos spielen, auf denen das Patriarchat in der arabischen Welt fußt. Er gehörte zu den Künstlern, die in Avignon Einblicke in die vom Islam geprägten Gesellschaften Nordafrikas und des Nahen Ostens ermöglichten. Zu dem Programm-Fokus gehörte auch das Thema der Diskriminierung von queeren Communities in der islamischen Welt – und eine intolerante Körperpolitik, die sich zunehmend auch im Okzident findet.

Wie berichten von Mord und Terror, von der Tragödie der Gewalt? Das beherrschende Sujet des Festivals bringt das Theater an den Rand seiner Möglichkeiten und wirft Fragen nach der Ontologie der darstellenden Künste auf. Von der finsteren Gruppenpsychoanalyse bei Ivo van Hoves „De dingen die voorbijgaan“ über den Alltag in Zeiten der Terroranschläge bei Julien Gosselins DeLillo-Roman-Adaptionen bis zum furiosen Oratorium in Thomas Jollys „Thyestes“ nach Seneca reichte das breite Spektrum ästhetischer und dramaturgischer Strategien, die sich in einem Punkt unterscheiden. In der beseelten Welt der Antike, wie Seneca sie in seiner Tragödie zeigt, wird eine blutige Schandtat noch kosmisch bestraft, weil die Sonne vor Ekel aus ihrer Bahn ausschert.

Ein Stück von Milo Rau wird später an der Schaubühne aufgeführt

In unserer von Zahlen und Zeichen beherrschten Welt ist die kathartische Reinigung vom Horror durch universelle Erschütterungen undenkbar geworden. Da hat sich eine Pforte geschlossen. An der rüttelt Milo Rau mit seiner neuen Arbeit „La Reprise“ über den Mord von vier Arbeitslosen an einem maghrebinischen Homosexuellen. Bei der internationalen Presse löste das Stück Jubel aus, weil sie die Kraft des Theaters bestätigt sah, seine Fähigkeit, das Grauen der Gegenwart zu bannen. Auch wenn es dies als Metatheater tut, das seine Mittel offenlegt bei dem Versuch, die Gewalttat zu erzählen. In Berlin kann zu Beginn der Schaubühnenspielzeit unter dem dann deutschen Titel „Die Wiederholung“ überprüft werden, ob es Milo Rau gelingt, den Horror der Gegenwart auf der Bühne zu bändigen.

Kopftheater. Körpertheater. Dokumentartheater. Auch das Bekenntnistheater aus der queeren Community: Das Festival in Avignon weitete mit einem insgesamt gelungenen Programm den Blick auf die Zustände in der heutigen Welt. Und es widmete sich bis zur Selbstvergiftung den blutigen Tragödien, bevor es mit einer unendlich behutsamen und zärtlichen Uraufführung endete, Raimund Hoghes Hommage „Canzone per Ornella“. Da steht die einstige Solotänzerin Ornella Balestra in einem alten Klosterhof hinter dem buckligen, krumm ins Leben gebauten Choreografen, führt seine Hände wie die einer Puppe und greift mit ihm zum Mond und zu den Sternen.

Eberhard Spreng

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