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Schwarze Romantikerin. Nico 1985 bei einem Auftritt an der Universität von Lampeter in Wales.

© GanMed64/Flickr/Wikipedia

Biografie über Nico: Virtuosin der Kaputtheit

Teutonischer Superstar: Tobias Lehmkuhl hat eine Biografie über die Sängerin Nico geschrieben, die vor 80 Jahren geboren wurde.

Berlin fand sie am schönsten, als es kaputt war. Man hätte, sagte Nico, die Stadt nach dem Krieg nicht wiederaufbauen sollen, sondern so belassen, wie sie war: als großen Schutthaufen. „Die Hölle sieht aus wie eine zerstörte Stadt“, lautete eines ihrer Aperçus. „Und sie ist wunderschön anzusehen.“

Die Sängerin, 1938 in Köln geboren, hatte als Kind Berlin von Brandenburg aus am nächtlichen Horizont brennen sehen. Später waren die Ruinen für sie zum Abenteuerspielplatz geworden. Die Trümmer der zerbombten Reichshauptstadt, behauptete sie, wurden zum Hintergrund ihrer Songs, und die Leichen, die sie dort sah, tauchten in den Lyrics wieder auf. Aber Nico kam erst im Herbst 1945 aus dem Spreewald-Städtchen Lübbenau, wo sie mit ihrer Mutter bei den Großeltern gelebt hatte, nach Berlin. Ob dort fast ein halbes Jahr nach Kriegsende noch Tote herumlagen?

Wohl kaum, urteilt der Journalist und Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl in seinem Buch über Nico, die in diesem Herbst 80 Jahre alt geworden wäre. Es trägt den Untertitel „Biographie eines Rätsels“. Die Sängerin, die eigentlich Christa Päffgen hieß, ist schwer zu fassen, auch weil sie gerne immer neue, oft haarsträubende Ich-Geschichten in Umlauf brachte. „Sie hatte ihre eigenen Wahrheiten“, schreibt Lehmkuhl. Ihr Vater, kolportierte sie, sei ein Widerstandskämpfer gewesen und im Konzentrationslager gestorben.

Nicos Lieblingswort war „Schwarzmarkt“

Vorfahren entstammten angeblich dem russischen Hochadel, in Berlin habe sie ein afroamerikanischer G.I. vergewaltigt. In Wirklichkeit starb der Vater, der bereits vor der Geburt seiner Tochter die Mutter verlassen hatte, 1941 als Wehrmachtssoldat an der Front. Auch die Vergewaltigung war wohl erfunden. Was aber stimmt, ist, dass Nico mit 16 Jahren Deutschland verließ und aufstieg zum Supermodel, Warhol-Superstar und „Pop Girl of 1966“, dem Jahr ihres größten Triumphs.

Abgesehen von einem Erinnerungsbuch ihres ehemaligen Liebhabers, des Musikers Lutz „Lüül“ Ulbrich, ist Lehmkuhls Buch nach einem dänischen und zwei englischsprachigen Vorläufern die erste deutsche Nico-Biografie. Sie führt tief hinein in die deutsche Kunst- und Kulturgeschichte. Nicos Lieblingswort war „Schwarzmarkt“, ihre tiefe Stimme behielt stets einen irritierend teutonischen Akzent. Die deutsche Prägung legte sie genauso wenig ab wie ihren deutschen Pass, und Lehmkuhl stellt ihre Songs, von denen die Sängerin sagte, sie kämen aus dem Mittelalter, in die Tradition der deutschen Romantik, in eine Linie mit E. T. A. Hoffmann, Wilhelm Müller und Franz Schubert. Ihr meisterliches Soloalbum „The Marble Index“, auf dem sie spröde Verse mit einem indischen Harmonium begleitet, benannte sie allerdings nach einem Gedicht des englischen Dichters William Wordsworth.

Als Mutter ist Nico eine Katastrophe

Begonnen hat Nicos Karriere mit dem „Berliner Chic“ der Nachkriegszeit. Sie arbeitet als Mannequin bei Modeschauen im KaDeWe, kess lächelnd wirbt sie auf Zeitungsseiten für „Lanolin“-Creme. Der Fotograf Herbert Tobias empfiehlt ihr, nach Paris zu gehen, vermittelt den Kontakt zum Modehaus Dior und schlägt ihr einen Künstlernamen vor: Nico.

Darin steckt nicht nur anagrammatisch die Ikone, so heißt auch Nico Papatakis, ein Filmproduzent, in den sich Tobias verliebt hatte und der in Frankreich Nicos Lebensgefährte wird. Sie bekommt eine Rolle in Fellinis Jahrhundertfilm „La dolce vita“, nimmt Schauspielunterricht bei Lee Strasberg in New York. An Talent mangelt es ihr nicht, wohl aber an Ehrgeiz. Lehmkuhl beschreibt sie als „extrem faulen Menschen“. Die weibliche Hauptrolle in der Highsmith-Verfilmung „Nur die Sonne war Zeuge“ verliert Nico, weil sie zu spät am Drehort erscheint. Dafür lernt sie am Set Alain Delon kennen, der zum Vater ihres Sohnes wird.

Allerdings erkennt der Filmstar nie seine Vaterschaft an, zu seiner Mutter, die den Enkel bei sich aufnimmt, bricht er den Kontakt ab. Als Mutter ist Nico eine Katastrophe, sie lässt den Sohn verwahrlosen und bringt ihn an die Nadel. Mit Drogen hat sie keine Probleme, Drogen, sagt sie, helfen ihr, „besser zu denken“. Tatsächlich ruinieren die Drogen sie, auch finanziell. Anfang der Achtziger, da hat der Abstieg längst begonnen, verdient sie mit Konzerten und Tantiemen durchschnittlich 20 000 Pfund im Jahr. Um ihren Heroinbedarf zu decken, benötigt sie 22 000 Pfund.

Die Zeit in der Factory bildet das Herzstück des Buches

„Sie sah aus, als wäre sie am Bug eines Wikingerschiffes über den Atlantik gekommen“, bemerkte Andy Warhol über Nico. Ihre Zeit in der Factory des Pop-Art-Meisters bilden das Herzstück des Buches. Warhol steckte sie für einen Film für 70 Minuten in einen Kleiderschrank und brachte sie mit Velvet Underground zusammen. Lou Reed wollte eigentlich keine Sängerin für seine Band, verliebte sich dann trotzdem in sie – so wie auch Brian Jones, Bob Dylan, Jim Morrison, Iggy Pop und Jackson Browne. Bei Velvet Underground sang Nico drei Songs, die Liaison mit Reed endete schnell. Die Zusammenarbeit mit Warhol war, so Lehmkuhl, zum Scheitern verurteilt. Warhol interessierte sich für Oberflächen, das passte nicht zur Innerlichkeit der Sängerin. Manche Analyse wirkt etwas weit hergeholt, etwa wenn Lehmkuhl sie philosophisch deutet, weil sie sich mit einem Nietzsche-Buch zeigte oder Derrida begegnet sein könnte.

Das großartige, vor zwei Monaten ins Kino gekommene Biopic „Nico 1988“ zeigt die späte Nico als Virtuosin der Kaputtheit. Sie färbt ihre Haare schwarz, flüchtet in die Hässlichkeit. Lehmkuhl spricht von „Vernachlässigung als Ästhetik“. Von den sechs Soloalben, die sie für sechs Plattenfirmen aufnimmt, wird keines ein Erfolg. „Wie willst du Selbstmord verkaufen?!“, fragt ihr Produzent John Cale. Zuletzt fasst sie wieder Tritt, kommt mit Methadon vom Heroin los, tourt unermüdlich. Lehmkuhl zählt von 1981 bis zu ihrem Tod 1200 Konzerte. Noch eine schöne Nico-Sentenz: „Ich mag Blumen. Sie erinnern mich an Friedhöfe.“ Nico stirbt 1988 nach einem Fahrradsturz auf Ibiza. Mit 49 Jahren.

Tobias Lehmkuhl: Nico. Biographie eines Rätsels. Berlin Verlag 2018. 283 S., 24 €.

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