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Union Jack, Flagge, England, Schottland, Wales, Großbritannien, Nordirland, Vereinigtes Königreich.

© dpa

Brexit-Referendum: Eine Liebeserklärung an Großbritannien, trotz allem

Verhärtet und polarisiert? Verlieren wir ein Vorbild, falls es zum Brexit kommt? Britischer Common Sense und Fairness treten nicht aus.

Von Markus Hesselmann

Auch diese Situation braucht Comic Relief, eine Auflösung durch Humor: „Pass auf, dass du dann nicht schon ein Visum beantragen musst“, sagt ein britischer Freund, als ich ihm erzähle, dass ich Ende Juli endlich mal wieder auf die Insel fahre. Und zwar wirklich „fahre“, mit dem Zug von Berlin nach London. Das hat mit Flugangst weniger zu tun als  mit einer Romantik des grenzenlosen, aber doch geerdeten Reisens, wie sie in Kraftwerks Album „Trans Europa Express“ in den Siebzigerjahren zum Ausdruck kam, im Titelstück,  einer europäischen Heimatmelodie, damals noch begrenzt auf Paris, Wien und Düsseldorf.

London und Berlin gehören inzwischen zum transeuropäischen Bahnnetz, durch Tunnelarbeiten und Mauerabriss. Den TEE gibt es nicht mehr, dafür den Eurostar. Ausgedehnt werden soll er sogar, von London nach Amsterdam, Köln, Frankfurt ... Berlin! Alles schien sich in Richtung „Europa Endlos“ zu bewegen, so heißt ein anderes Stück auf dem Kraftwerk-Album.

Die Briten mögen Kraftwerk, aber sie mögen Europa anscheinend nicht mehr. In dieser Woche entscheiden sie über ihren Austritt aus der Europäischen Union, mit immer noch guten Chancen für die Brexit-Befürworter. Dadurch, dass es so weit kommen konnte, ist der Kontinent schon jetzt isoliert, zumindest gefühlt. Ich weiß, das ist anmaßend, liebe Briten, my dear friends, aber ich nehme das persönlich, weil ich mir einbilde, meine Liebe in Meilen bewiesen zu haben, mit Planes, Trains und Automobiles, per Schiff und Hovercraft, von Calais nach Dover, von Hoek van Holland nach Harwich, sogar einmal von Hamburg die Elbe hinunter und über eine stürmische Nordsee. Britannia rules the waves. Geschwommen bin ich noch nicht.

Fußball und Fernheimweh

Die Begeisterung fürs Britische fing mit Town Twinning als 13-Jähriger an, ging dann über eine Auszeit zwischen Zivildienst und Studium sowie später als Visiting Student weiter und mündete schließlich in zwei Jahre als Tagesspiegel-Korrespondent in London. Das ist nun auch schon acht Jahre her. Doch nicht erst seitdem sind meine Freunde und Kollegen Briten, ich fiebere mit den UK-Teams bei Fußballturnieren und bekomme Fernheimweh, wenn ich einige Monate nicht auf der Insel war.

Von der Mutterlandfolklore um Fußball, Humor und Pop will ich hier nicht wieder  anfangen. Was ich an den Briten vorbildlich und nachahmenswert finde, ist ihre pragmatische, auf Wettbewerb, Austausch und Ausgleich angelegte Grundhaltung. Das widerspricht sich nicht, sondern findet zusammen in Common Sense und Fairness, weicheren, Spielraum lassenden Tugenden, mit denen wir nach Konsequenz und Gerechtigkeit strebenden Deutschen leider wenig anfangen können.

Großbritannien ist ein Land, in dem die Schiedsrichter nicht fuchtelnd oder schnarrend ihre Autorität unter Beweis stellen, sondern mit den Fußballern reden und alles darauf anlegen, dass das Spiel weitergeht, das schöne Spiel, das auch für sie mehr ist als seine Regeln und deren Befolgung. Ein Land, in dem sich Politiker im Parlament gegenübersitzen und sich tatsächlich oft noch inhaltlich Spannendes sagen, deutlich, aber fair und mit Witz. Ein Land, in dem die Polizisten bei aller Bereitschaft durchzugreifen erst einmal nahbar und freundlich sind und in ihrer zivilen Präsenz viel stärker als Teil der Community wahrgenommen werden als bei uns. Und ein Land, in dem in der Digitalisierung stärker die Chance auf Austausch und Teilhabe gesehen wird – sogar von Behörden –, als die Risiken und Nebenwidersprüche, die bei uns die Debatte bestimmen.

Faschisten kleingehalten, Nazis bekämpft

Verlieren wir dieser Tage ein Vorbild? Reduziert aufs In oder Out scheint sich Großbritannien  verhärtet und polarisiert zu haben. Jenseits der üblichen, ebenfalls oft spielerischen und nicht wirklich 1:1 zu nehmenden Übertreibungen wurde es ernst im öffentlichen Diskurs. Ernst bis hin zur tödlichen Gewalt, der die englische Europäerin Jo Cox zum Opfer fiel.

Ein Land mit einer derart langen demokratischen Tradition wird weder dadurch, noch durch einen Brexit in seiner zivilgesellschaftlichen Verfasstheit gefährdet. Die Bürger des Vereinigten Königreichs, die einst im eigenen Land die Faschisten gar nicht erst hochkommen ließen und die von außen heranrückenden Nazis erfolgreich bekämpften, haben jedes Recht, ihre Zukunft selbständig zu bestimmen. Ihre Skepsis gegenüber Europa ist aus dieser Geschichte heraus und auf Basis ihrer über Jahrhunderte gewachsenen Institutionen auch verständlich. Aber bitte, liebe Briten, gefährdet nicht das, was euch auszeichnet und vorbildlich ist: Common Sense und Fairness, die sich nicht mit Demagogie, Hassdiskursen und Extremismus vertragen, ob in der EU oder draußen.

Ich werde weiterhin nach Großbritannien fahren. Zur Not auch mit Visum.

Sie können eine englische Version dieses Textes hier finden.

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