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Was würden Sie empfehlen? Das fragen wir unsere Leser und eine Fachjury derzeit unter www.tagesspiegel.de/comics.

© Foto (Internationaler Comic-Salon): Lars von Törne

Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2017 – Micha Wießlers Favoriten

Welches sind die besten Comics des Jahres? Das fragen wir unsere Leser und eine Fachjury. Heute: Die Top-5 von Comic-Fachhändler Micha Wießler.

Auch in diesem Jahr haben wir unsere Leserinnen und Leser wieder gefragt, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren - hier die Ergebnisse. Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Der gehören an:
Barbara Buchholz, Kulturjournalistin (www.bbuchholz.de)
Gesine Claus, Comic-Fachhändlerin (Strips & Stories, Hamburg)
Andrea Heinze, Kulturjournalistin (kulturradio vom rbb, BR, SWR Deutschlandfunk, MDR)
Micha Wießler, Comic-Fachhändler (Modern Graphics, Berlin)
Frank Wochatz, Comic-Fachhändler (Comics & Graphics, Berlin)
Lars von Törne, Tagesspiegel-Redakteur (www.tagesspiegel.de/comics)

Die Mitglieder der Jury küren derzeit ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Diese Favoritenlisten veröffentlichen wir sukzessive in den kommenden Tagen auf den Tagesspiegel-Comicseiten. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt. Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten landeten. Diese Shortlist wird abschließend von allen neun Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergibt sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die am 21. Dezember bekannt gegeben wird.

Micha Wießler.
Micha Wießler.

© Privat

Hier dokumentieren wir die Favoriten von Comic-Fachhändler Micha Wießler (Modern Graphics, Berlin)

Platz 5: Grönland Vertigo (Hervé Tanquerelle)

Nimmt man "Grönland Vertigo" in die Hand, denkt man erstmal an ein Tim-und-Struppi-Album. Es ist im "Nouvelle-Ligne-Claire"-Stil gezeichnet, einer moderneren Variante des von Hergé begründeten Zeichenstils, die Buchausstattung und das Lettering sind an die klassischen Tim-Alben des Castermann Verlags angelehnt. Und auch die Geschichte erinnert an die Abenteuer des pfiffigen Reporters. Nur etwas moderner. Der Comiczeichner Georges nimmt eine Einladung auf eine Schiffsreise in den Norden an, die er dokumentieren soll. Dabei trifft er auf schräge Mitreisende, sein künstlerisches Vorbild, der aussieht wie ein gealterter Käpitän Haddock und eine ähnliche Liebe zum Alkohol hat, eine atemberaubende Landschaft und ein oder zwei Geheimnisse und Abenteuer. Das alles ist flott und amüsant erzählt und hält sich perfekt die Waage zwischen Eigenständigkeit und Hommage. Sapristi!

Platz 4: Maggy Garrisson (Lewis Trondheim / Stéphane Oiry)
Es ist eine ungewöhnliche Heldin, die uns Lewis Trondheim, der hier wieder nur als Autor tätig ist, zusammen mit dem Zeichner Stéphane Oiry vorstellt. Tough, leidlich attraktiv, auch nicht übermäßig moralisch, und sehr trinkfest. Maggy lebt im Londoner East End und hat kurz vor Weihnachten endlich mal wieder einen Job. Als Assistentin eines ziemlich schlechten Privatdetektivs. Da wird sie nicht lange bleiben, lieber selbst einer Spur nachgehen und ihren eigenen Kopf durchsetzen. Dazwischen wird sie mit einem kleinen Gauner anbändeln, ihre Freundin verraten und zu Geld kommen, das natürlich wieder verteidigt werden muss. Es gibt hier kein eindeutiges Gut und Böse, alle sind flexibel und müssen sehen wo sie bleiben. Realistisch halt. Das alles ist herrlich unprätentiös, locker geschrieben, kongenial gezeichnet.

Platz 3: Brodecks Bericht (Manu Larcenet)
Manu Larcenet, der vergangenes Jahr mit dem Abschlussband der fünfteiligen Serie "Blast" und zuvor schon mit "Der alltägliche Kampf" mein jeweiliger Jahres-Favorit war, hat es wieder unter die Besten geschafft. Zwar hat er diesmal einen Roman von Philippe Claudel adaptiert, dessen leichte Schwächen auch die Adaption übernimmt, aber die Stimmung (sehr düster), die Bilder (schwarz-weiße Schneelandschaften), die Aufmachung des Buchs (das Querformat wird per Schuber regalfreundlich in ein Hochformat verwandelt), alles zusammen ist schon wieder ein wirklich großer Wurf. Brodeck, der vor nicht allzu langer Zeit als einzig Überlebender aus einem Konzentrationslager des Feindes in sein Dorf in den Bergen zurückgekehrt ist, wird Zeuge, wie die Dorfgemeinschaft "den Anderen" tötet, einen Fremden, der seit einiger Zeit bei ihnen gelebt hatte. Brodeck soll einen Bericht schreiben, wie es dazu gekommen ist. Dabei erfährt er mehr über das Dorf und seine Bewohner, als ihm lieb ist.

Das hier sind die beiden Top-Titel von Micha Wießler

Platz 2: Wie ich versuchte ein guter Mensch zu sein (Ulli Lust)
Uli Lusts zweite autobiografische Graphic Novel setzt ein paar Jahre nach "Heute ist der letzte Tag vom Rest meines Lebens" ein. Sie lebt in Wien, versucht sich als Künstlerin durchzubringen, hat einen Sohn, der bei ihren Eltern auf dem Land lebt. Sie hat eine Beziehung mit dem deutlich älteren Schauspieler Georg, die aber auf Dauer die erotische Komponente vermissen lässt. Daher beginnt sie eine Affäre mit dem Nigerianer Kimata, der irgendwann Besitzansprüche entwickelt und gewalttätig wird. So weit so Klischee, könnte man sagen. Aber es ist nun mal so passiert und es ist die offene und ehrliche Art wie Uli Lust ihre Geschichte erzählt, die den Comic so gut macht. Sie zeigt ihr jüngeres Ich als naives, beeinflussbares und doch selbstbewusstes und triebgesteuertes Wesen. Das ist spannend und interessant, und man fühlt sich manches mal als Voyeur. Und damit sind nicht die auch üppig gezeigten Sexszenen gemeint. Diese illustrieren wie auch der Rest vor allem ihr Innenleben, ihre eigene Lust, an dem sie den Leser teilhaben lässt. Zur interessanten Geschichte kommt, dass Uli Lust die Mittel des Comic gekonnt anwendet, Stimmungen und Situationen dadurch unterstreicht und unterstützt.

Platz 1: Patience (Daniel Clowes)
Patience und Jack sind ein Paar, zwei arme Seelen, die sich nun endlich gefunden haben, ein Kind erwarten und einer, wenn auch finanziell ungesicherten, aber immerhin gemeinsamen Zukunft entgegensehen. Alles zerbricht als Jack nach Hause kommt und Patience ermordet auffindet. Natürlich wird er verdächtigt, nach vielen Monaten aber freigelassen und ab da vergeudet er sein Leben, sucht Antworten und findet keine. In der fernen Zukunft (2029!) bietet sich ihm dann die Gelegenheit, eine Zeitmaschine zu stehlen und es beginnt ein wilder Ritt durch die Zeit, durch sein und Patience Leben, in das sein älteres Selbst sich immer wieder einmischt, bis hin zum endgültigen Finale am Tag des Mordes. Dan Clowes ist einer der alten Helden des Independent-Comics, seine Reihe "Eightball" rockte Anfang der 90er die Comicwelt. Mit "Ghost World" wurde er darüber hinaus berühmt, und die Verfilmung u.a. mit einer sehr jungen Scarlett Johansson war ein vorzeigbarer Indie-Erfolg. Seitdem veröffentlicht er alle paar Jahre neue Bücher, jetzt im "Graphic-Novel"-Gewand. Thema ist immer irgendwie die Leere zwischen den Menschen, ihre Kälte, die sich in Zynismus und oft auch in Gewalt äußert. Und seine Figuren sind immer Außenseiter, durch deren Blick er die amerikanische Gesellschaft seziert. Und auch in "Patience", in diesem scheinbaren Science-Fiction-Genreumfeld, bleibt er seinen Themen treu. Ihm geht es natürlich nicht um Technik oder Science. Er benutzt die Genre-Klischees und eine fast schon abstruse Retro-Future-Optik für seine Zwecke, für seine Geschichte. Das alles kombiniert er mit seiner ganz eigenen stilistischen Meisterschaft als Comickünstler. Der beste Dan Clowes seit langem.

Micha Wießler

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