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Surrealistisch. Eine Szene aus dem Band.

© Illustration: Schuiten/Peeters, Schreiber & Leser

„Geheimnisvolle Städte“: Sandsturm über Brüsel

Kontrollierte Linien, grenzenlose Fantasie: Der Comic „Die Sandkorntheorie“ des Duos Schuiten und Peeters spielt in einer surrealen Parallelwelt und entzieht sich der leichten Einordnung.

Die Comics aus dem Zyklus der „Geheimnisvollen Städte“ zählten schon immer zu den rätselhaftesten Erzählungen überhaupt. Nahezu jeder Band handelt von irrationalen, selten auch nur versuchsweise erklärten Ereignissen in einer meist vollkommen rationalen Welt. Das und der extrem kalkulierte, unterkühlte Strich der Geschichten (neben dem sich Hergé mit seiner „Ligne Claire“ wie ein wilder Revoluzzer ausnimmt), der in vollkommenem Kontrast zur Irrationalität der Ereignisse steht, machen die Geschichten um obskure Städte, fantastische Stadtplaner und durchgeknallte Städtebauer zu einem schwer kategorisierbaren (und damit auch schwer verkäuflichen) Titel. Oder kurz: Diese Comics sind so originell und originär, dass es schlicht keine Schublade für sie gibt. Der Kunde aber braucht seine Schubladen.

Aberwitzige Hochbahnen, charmante Altstadthäuser

Darum wohl erscheint der neueste Band des Zyklus in Deutschland sechs Jahre nach dem letzten, eine atemberaubend lange Zeitspanne, und immerhin drei Jahre nach der französischen Erstveröffentlichung. „Die Sandkorntheorie“ unterscheidet sich in von den vorherigen Bänden, indem der Band Schauplätze, Figuren und Ereignisse aus früheren Erzählungen aufgreift. Stand bisher fast jeder Band für sich, verknüpft „Die Sandkorntheorie“ einzelne Ereignisse, deutet Verbindungen über die bestehende Chronologie hinaus an, greift Figurenschicksale auf (und schafft Verbindungen zu unserer, der „realen“ Welt).

Alles vergeht. Eine Seite aus dem besprochenen Buch.
Alles vergeht. Eine Seite aus dem besprochenen Buch.

© Illustration: Schuiten/Peeters, Schreiber & Leser

Das heißt nicht, dass der Band leichter zu begreifen ist, sofern man die übrige Reihe kennt. Wie jede Erzählung der „Geheimnisvollen Städte“ bleibt auch diese letztlich rätselhaft. Wieder spielt sie in Brüsel, der hassgeliebten Metropole der Künstler, die damit ein surreal-futuristisches Ebenbild ihrer eigenen Heimatstadt Brüssel geschaffen haben, mit aberwitzigen Hochbahnen, Hochhäusern und charmanten Altstadthäusern, deren Formen und Fassaden sich miteinander verknoten und ineinander über gehen. Im Kern wie immer ein mysteriöses Ereignis, beziehungsweise sogar mehrere: Sand, der in einer Wohnung auftaucht, Steine, die in einer anderen auftauchen, ein Koch, der so lange an Gewicht verliert, bis der Wind ihn davon zu treiben droht. Ein bizarres Schmuckstück, das nicht loszuwerden ist.

Eine rationale Erklärung gibt es nicht

Die Stadtoberen lassen Ermittlungen dazu aufnehmen, während die Stadt im Chaos des zunehmend ganz Brüsel überflutenden Sandes versinkt. Von einer Sandkorntheorie ist die Rede, sie soll die Ereignisse erklären. Der Leser kann nur mutmaßen, was hier gemeint ist. Möglicherweise jene Theorie, dass es mehr Sandkörner auf der Erde gibt als Sterne im Universum? Denn die Geschichte handelt in erster Linie vom Gleichgewicht. So wie Brüsel im Sandchaos versinkt, zerfallen anderswo die Gebäude der Bugtis, eines weit entfernt lebenden Wüstenstammes. Was hier zu viel ist, ist dort zu wenig. Ausgleich muss geschaffen werden.

Sechs Jahre Pause. Der neue Band aus dem Zyklus der „Geheimnisvollen Städte“, hier das Coverbild, ließ lange auf sich warten.
Sechs Jahre Pause. Der neue Band aus dem Zyklus der „Geheimnisvollen Städte“, hier das Coverbild, ließ lange auf sich warten.

© Schreiber & Leser

„Die Sandkorntheorie“ ist mit diesem Ansatz ein verblüffend aktueller Comic,  der unterschwellig die aktuelle Nord-Süd-Debatte, den Clash von westlicher und orientalischer Kultur aufgreift. Aber Schuiten und Peeters sind selbst viel zu sehr Architekten, als das ihre Geschichte nicht noch eine weitere Lesart gestatten würde. Nämlich die vom unvermeidlichen Zerfall. Hierfür steht der Sand, der nach und nach Brüsel vollständig zu bedecken droht, der Häuser zum Einstürzen bringt. Der Zerfall sorgt dafür, dass die Einwohner die Stadt nach und nach verlassen. Letztlich, sagen Schuiten und Peeters, zerfällt jedes gebaute Haus, und alle Mühe, das zu vermeiden, ist nur kurzzeitiger Widerstand gegen das Unvermeidliche.

Der Sand und die Steine sind aber zugleich die Materialien für neue Häuser. „Die Sandkorntheorie“ muss derart metaphorisch gelesen werden, denn eine rational begreifliche Erklärung für alle Geschehnisse gibt es nicht. „Die Sandkorntheorie“ ist trotz seiner nüchternen, mit Zirkel und Lineal gestalteten klaren Oberfläche ein zutiefst lyrischer Comic über die Vergänglichkeit und die Dinge des Lebens, dessen Handlung sich nur emotional erschließt. (Stefan Pannor)

Francois Schuiten und Benoit Peeters: Die Sandkorntheorie, Schreiber & Leser, 112 Seiten; 24,95 Euro, mehr unter diesem Link.

Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors seiner Seite www.pannor.de entnommen. (c) Stefan Pannor 2010.

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