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Wie war es wirklich? Eine der Seiten aus "Heimat", die mit Hilfe von Comic-Elementen Geschichte rekonstruiert.

© Penguin

„Heimat“ von Nora Krug: Familienaufstellung

Mit ihrer grafischen Erzählung „Heimat“ taucht Illustratorin Nora Krug tief in die Geschichte ein - die ihrer Familie wie ihres Herkunftslandes.

War Opa Willi ein Nazi? Wieso hat der Vater vor Jahren schon den Kontakt zu seiner Schwester abgebrochen? Und wie viel vom Land der Vorfahren nimmt man mit, wenn man in die Ferne auswandert? Das sind einige der Fragen, die der 1977 in Karlsruhe geborenen und in New York lebenden Illustratorin Nora Krug als Ausgangspunkte ihrer grafischen Erzählung „Heimat“ gedient haben, einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der ihres Herkunftslandes, speziell der NS-Zeit, wie man sie so noch nicht gesehen hat.

Dabei scheint die Herangehensweise auf den ersten Blick vertraut. In jüngster Zeit haben sich hierzulande zahlreiche künstlerisch versierte Autorinnen mit der eigenen Familiengeschichte und Konzepten wie Herkunft und Heimat beschäftigt. So hat die aus Polen stammende Illustratorin Magdalena Kaszuba in ihrer getuschten Bilderzählung „Das leere Gefäß“ einen radikalen Bruch mit ihrer polnisch-katholischen Identität verarbeitet. Nacha Vollenweider hat sich in dem essayistisch angelegten Buch „Fußnoten“ mit der jüngeren argentinischen Geschichte, der eigenen Biografie und der ihrer Familienmitglieder beschäftigt. Und Julia Hoße hat die Kindheitserinnerungen der Frauen ihrer Familie in ihrem Buch „In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester“ zu einem malerischen Gesamtkunstwerk verarbeitet.

Familiengeschichten sind nur der Anfang einer Suche

Diese Arbeiten beschränken sich jedoch weitgehend auf autobiografische Schilderungen, Gedanken der Autorinnen und überlieferte Familienerinnerungen. Die sind künstlerisch ansprechend aufbereitet worden, erzählen aber inhaltlich selten mehr als ein Tagebuch. Nora Krug, die sich als „heimwehkranke Auswanderin“ bezeichnet, geht weiter. „Heimat“ ist das Ergebnis einer Tiefenrecherche, bei der eigene Erinnerungen und überlieferte Familiengeschichte nur der Anfang einer Suche nach Antworten sind.

Wie eine Detektivin legt Krug durch Literaturrecherchen, Archivbesuche, das Studium von Militärakten und Interviews Widersprüche und Lebenslügen offen. Sie hinterfragt Selbstverständlichkeiten, hakt auch bei schmerzhaften Themen nach und versucht in Zweifelsfällen mögliche Szenarien durchzuspielen, wie sich ihre Familienmitglieder der vorigen zwei Generationen in entscheidenden Phasen der deutschen Geschichte verhalten und was sie gefühlt haben mögen. Um ihre Ergebnisse zu präsentieren, verbindet sie Elemente der Illustration, des Skizzenbuches, des Fotoalbums und des Comics zu einer einzigartigen Wort-Bild-Collage. Dabei beeindruckt vor allem, wie die Autorin den Leser am eigenen Erkenntnisprozess teilhaben lässt.

Wieso war der sozialdemokratische Opa in der NSDAP?

Die Suche nach den eigenen Wurzeln begann für Krug, nachdem sie in die USA ausgewandert war und in eine jüdische Familie eingeheiratet hatte. Jeder Schritt wird dabei nicht nur in Worten reflektiert, sondern auch in Bildern, die oft zusätzliche Ebenen hinzufügen: Familienfotos und Flohmarkt-Fundstücke, freie und oft assoziative Illustrationen, sequenzielle Passagen, Faksimiles von historischen Dokumenten und persönlichen Fundstücken.

Im Zentrum stehen der früh verstorbene Onkel, dessen Tod als Soldat im Zweiten Weltkrieg bis heute als Schatten über der Familie liegt, sowie ihr Opa. Der wird in den Erzählungen der Familie als Sozialdemokrat beschrieben. Doch wie ihre Nachforschungen ergeben, war er in der NSDAP – wenn auch als selbst erklärter „Mitläufer“ und aus Gründen, die einem im Verlauf von Krugs Recherche zunehmend nachvollziehbarer erscheinen.

Je tiefer sie in die Familiengeschichte eintaucht, desto mehr traumatische Erfahrungen finden sich. So bei ihrem Vater, der als Halbwaise in einer lieblosen Umwelt aufwuchs, die sein Verhalten bis heute prägt, auch wenn er sich weigert, darüber zu sprechen. Oder die Geschichte des Großonkels, dessen Leiden und Sterben als Soldat Krug anhand vieler Dokumente sachlich, aber umso erschütternder vor Augen führt.

Klassiker: Das Titelbild von "Heimat" zitiert Caspar David Friedrichs "Der Wanderer über dem Nebelmeer".
Klassiker: Das Titelbild von "Heimat" zitiert Caspar David Friedrichs "Der Wanderer über dem Nebelmeer".

© Pengun

Immer wieder findet die Künstlerin, die Professorin an der Parsons School of Design in New York ist, für die Vermittlung ihrer Erkenntnisse grafisch originelle Lösungen, die die Lektüre trotz des schweren Stoffs visuell ansprechend machen. Humorvolle Entlastung schaffen auch spielerische Elemente wie der „Katalog deutscher Dinge“: Symbolisch aufgeladene Gebrauchsgegenstände von Hansaplast bis zum Uhu, der zwar als stärkster Kleber der Welt gepriesen werde, aber Bruchstellen nicht verdecken könne – eine gute Metapher für Krugs Thema.

Der Autorin selbst gelingt es auch nach intensiver Recherche – die Arbeit an dem Buch dauerte sechs Jahre – nur teilweise, die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern wieder zusammenzufügen, viele Fragen werden nur ansatzweise beantwortet. Dafür entlässt sie den Leser mit dem Wunsch, sich jetzt seine eigene Familiengeschichte etwas genauer anzuschauen.

Nora Krug: Heimat – ein deutsches Familienalbum. Lettering Oliver Schmitt, Penguin, 288 Seiten, 28 Euro

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