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Deborah Feldmanns „Überbitten“: Mit der Schuld im Schlepptau

Suche nach dem eigenen Weg: Deborah Feldman erzählt in „Überbitten“ vom neuen Leben in Berlin, nach der Flucht aus ihrer ultraorthodoxen chassidischen Gemeinde.

Ihr erstes Buch „Unorthodox“ war ein Bestseller. Deborah Feldman beschrieb darin so luzide wie bewegend ihr Leben in der ultraorthodoxen chassidischen Gemeinde der Satmarer in Williamsburg, Brooklyn – und ihre Flucht aus einer Welt, in der sie zwangsverheiratet worden war, als Frau nicht lesen, nicht lernen, nicht singen durfte. Sie war 23, als sie ging. Mit ihrem kleinen Sohn an der Hand. Jetzt, in „Überbitten“, erzählt sie vom Leben danach: dem langen Weg der Unsicherheit und Einsamkeit, der Suche nach einem Zuhause für sich und ihr Kind. Inzwischen heißt es Berlin.

Sie kämpft im reichen Manhattan um ihr Überleben und sieht sich gezwungen, ihren Körper herzugeben, um Eier für unfruchtbare Frauen zu produzieren. Und kaum macht sie ihr Buch berühmt, wird sie Eigentum einer gierigen Öffentlichkeit und erleidet einen neuerlichen Freiheitsverlust. Zum Glück ist sie stark und weiß ihren Einfluss zu nutzen. Als der erste Artikel über sie in einer New Yorker Zeitung erscheint und sie am nächsten Tag in der Talkshow von Barbara Walters auftreten soll, bekommt sie am Morgen einen Anruf von ihrer Anwältin.

Ihr Mann habe die Zeitung gelesen und wolle nun die Scheidungsurkunde nicht unterschreiben, sondern beantrage das Sorgerecht für das Kind. Die Vorstellung, ihr Sohn müsse dort aufwachsen, wo sie fast zugrunde ging, lässt sie erzittern. Sie holt tief Luft und erklärt der Anwältin, man möge ihrem Mann bestellen, wenn er bis elf Uhr nicht unterschreibe, werde sie am Mittag zwölf Millionen Zuschauern erzählen, womit er drohe.

Berlin ist eine Stadt, in der man „anders“ sein kann

Sie ist jetzt eine berühmte Jüdin. Aber was für eine Jüdin? Sie will ihre Herkunft nicht verleugnen und nicht von einer chassidischen zu einer Antijüdin werden. Sie hadert mit Gott und sucht ihn zugleich. Sie liest Martin Buber, Jean Améry, Hannah Arendt, Jean Baudrillard und Primo Levi. Und so berichtet sie auch von einem intellektuellen Ringen um ihre eigene Identität.

Sie bereist Amerika – und bleibt dem Land fremd. Sie fährt nach Ungarn, woher die Großmutter kam, nach Deutschland, wo einst ein Urgroßvater lebte. Und ausgerechnet hier, in diesem Land, beginnt sie sich wohl zu fühlen. Das Deutsche ähnelt für sie dem Jiddischen, ihrer Muttersprache. Berlin ist eine Stadt, in der man „anders“ sein kann. Sie findet Freunde.

Feldman erzählt keine kitschige Versöhnungsgeschichte. Dazu ist sie zu intelligent – und die historische Last, die sie spürt, zu schwer: „Wie die eigene Existenz versöhnen mit der Vernichtung so vieler.“ Sie lebt in Deutschland, doch Versöhnung gibt es für sie nur im Sinne des Buchtitels: „Iberbetn“ ist im Jiddischen ein altes Ritual des Betens und Vergebens, mit der Absicht, Frieden zu schließen und Eintracht zu wahren.

Die tiefe Beunruhigung, es zu leicht zu haben

Feldman hat ihr Buch der Großmutter gewidmet. Die „Bubby“ hat Auschwitz überlebt. Die Enkelin glaubt nicht, dass sie selbst diese Kraft gehabt hätte, und hält es deshalb für unverdient, noch am Leben zu sein. So kämpft sie nicht nur gegen die Schuld, ihre geliebte Großmutter verlassen und enttäuscht zu haben, sondern auch gegen die Überlebens-Schuld, diese tiefe Beunruhigung, es zu leicht zu haben im Leben. „Überbitten“ ist komplex, eine qualvolle, von großer Integrität durchwobene Suche nach dem eigenen Weg. Hier und da hätte es Abkürzungen vertragen können. Nicht jede für die Autorin wichtige Begegnung ist es auch für den Leser.

Vor sieben Jahren ist Deborah Feldman den Ultraorthodoxen entkommen. Im alten Israel bestellte man die Felder sieben Jahre lang, bevor man ihnen ein Sabbatjahr gewährte. Nun erzählt sie in sieben Kapiteln auf über 700 Seiten vom Weg in ihre neue „Selbstbehausung“. Vielleicht folgt jetzt auch für sie ein Jahr der Erholung.

Deborah Feldman: Überbitten. Eine autobiografische Erzählung. Aus dem Amerikanischen von Christian Ruzicska. Secession Verlag, Zürich 2017. 704 Seiten, 28 €.

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