zum Hauptinhalt
Schlammschlacht. Die „Antigone“-Darstellerinnen lassen von Sophokles’ Tragödie nicht viel übrig.

© david baltzer / bildbuehne.de/David Baltzer

Der letzte Fango in Athen: „Antigone“ als Matschbad am Gorki Theater

Mit Lust in den Dreck. Leonie Böhm und ihr Frauenensemble canceln den antiken Klassiker von Sophokles und machen ihr eigenes Ding daraus.

Fangopackungen werden gegen Gelenkschmerzen und Muskelverspannung verschrieben. Der Heilschlamm lockert das Gewebe und fördert die Durchblutung. Und das soll ja helfen, fühlt sich jedenfalls gut an, angenehm warm.

Hier liegen die Probleme noch viel tiefer. Fünf Frauen stehen auf der Bühne und haben die Nase voll: „Es gibt so viele Übel, die von unseren Vätern und Müttern gekommen sind, die uns nicht erspart bleiben. So viel Leid, so viel Angst Kränkung Scham Ohnmacht, die wir nicht selbst wieder erleben. Das alles mehrt sich in uns. In uns allen. Das ist unser Fluch.“

Eine „Antigone“ ist angekündigt, „nach Sophokles“. Was bei der Regisseurin Leonie Böhm und ihrem Ensemble Totalverweigerung heißt. Das Maxim Gorki Theater zeigt hier keine Anti -„Antigone“, vielmehr eine Reihe von Kurzschlüssen. Die Parole lautet: „Wir müssen was tun. Wir müssen das durchbrechen. Lasst uns den ganzen Staub hinwegwischen, der auf dieser ganzen Scheiße liegt. Den nassen Leib entblößend.“

Sie wollen die Opferrollen nicht mehr spielen, weil sich dann nie etwas ändert. Selbst Antigone, die Rebellin gegen männliche Herrschaft, muss daran glauben, weg mit ihr. Klassiker also sind Unterdrückungsapparate, Tradition toxisch: Das zieht auch Florentina Holzinger an der Volksbühne durch. Gegen ihre Hard-Core-Performance „Ophelia’s got talent“ wirkt dieses Sophokles-Dementi wie ein Kindergeburtstag bei schlechtem Wetter.

Spucke und Spiele

Oder wie ein lustiger Workshop. Machen wir uns erstmal locker. So beginnt es mit Spuck- und Schluckübungen. Rotz in die Luft, wer fängt es auf? Wer zieht den längsten Faden? Lea Draeger, Eva Löbau, Julia Riedler und Cigdem Teke amüsieren sich dabei köstlich, während Fritzi Ernst am Keyboard steht und die Verrenkungen der Gruppe begleitet.

Die Bühne, eine finstere Höhle (von Zahava Rodrigo) mag an das Gefängnis erinnern, in dem Antigone sterben soll, weil sie sich dem König widersetzt. Aber diese Geschichte ist gecancelt. Der Abend könnte auch - und ebenso anmaßend und irreführend - unter dem Titel „Elektra“ oder „Medea“ laufen. Hauptsache, die Performerinnen fühlen sich wohl und kämpfen sich frei. Selbstmitleid und Selbstironie halten sich ungefähr die Waage. Sonst wäre es komplett unerträglich.

Und jetzt: ausziehen!

Aber die Frage stellt sich schon: Warum sich das anschauen? Wozu dabei sein, wenn die vier Schauspielerinnen sich mit Schlamm beschmieren und, wie angekündigt, nach und nach ausziehen? Weiter hinten auf der Spielfläche befindet sich der Pool mit dem braunen Matsch für den letzten Fango in Athen.

Noch eine O-Ton-Kostprobe: „Schreien oder schweigen / Ich kann mich nicht entscheiden / Zwischen diesen beiden / Schweigen oder schreien / Überall ist Scheiße / Ich kann nicht mehr ausweichen / Wenn ich mich wegschleiche / Schleiche ich in Scheiße“. Sie bewerfen sich, sie wälzen sich, sie machen sich schmutzig und genießen es. Meist haben sie ein Lachen in der Stimme, nichts Triumphales. Doch man kann schon den Eindruck gewinnen, dass die Frauen sich richtig gut fühlen in dieser Anwendung und Abwendung. Und auch ein wenig kokettieren mit dem falschen Fäkalzeug und dem Ekel.

Plantschen in der Antike

Im antiken Epidauros war bei der Theateranlage auch eine Art Heil- und Erholungsbereich, das ist überliefert. Nur gingen die Menschen dann auch in die Vorstellung, schauten sich ein Stück an. Das lassen sie hier mal lieber, gehen gleich zur Wellness und knicken die Tragödie. Knapp zwei Stunden Nabelschau, Nacktbaden, Wortgeklimper. Physiotherapie mit Psychofaktor.

Die Welt draußen ist schlimm genug, nur Krisen und Konflikte. Da lassen sie es sich wenigstens im Theater mal gut gehen zur Abwechslung. Aber vielleicht war das wirklich noch die Workshop-Phase und die Premiere kommt irgendwann.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false