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Kultur: Einzigartiges Abendland - Max Webers Studie endlich in neuer Ausgabe

Generationen von Studenten der Soziologie, aber auch benachbarter Wissenschaften haben sich durch "Wirtschaft und Gesellschaft" wenn schon nicht gequält, so doch den Ehrfurcht gebietenden Band zumindest auf dem Schreibtisch gehabt. Max Webers nachgelassenes Hauptwerk entmutigt zunächst jeden Interessenten - um ihn allerdigs beim Hineinlesen um so mehr zu faszinieren.

Generationen von Studenten der Soziologie, aber auch benachbarter Wissenschaften haben sich durch "Wirtschaft und Gesellschaft" wenn schon nicht gequält, so doch den Ehrfurcht gebietenden Band zumindest auf dem Schreibtisch gehabt. Max Webers nachgelassenes Hauptwerk entmutigt zunächst jeden Interessenten - um ihn allerdigs beim Hineinlesen um so mehr zu faszinieren. Das Werk, eine bis heute unübertroffene Hauptleistung der Sozialwissenschaft, ist ein gigantischer Steinbruch. Noch jeder Leser hat sich nach eigenen Bedürfnissen daraus bedient.

Wie wohl kein anderes Hauptwerk der Sozialwissenschaften ist "Wirtschaft und Gesellschaft" ein Angebot, das unausgeschöpft bleibt. Das liegt nicht zuletzt an dem fragmentarischen Charakter dieses Werkes, das mit dem Komplex der in die universale Religionssoziologie mündenden "Protestantischen Ethik" um den Titel des magnum opus des Autors wettstreitet. Max Weber hat unendlich viel geschrieben, aber wenige Bücher in einer ihn selbst befriedigenden Form abschließen können. Sein vorzeitiger Tod - er verstarb 56-jährig im Juni 1920 als Opfer der europaweiten Grippe-Epidemie nach dem Ersten Weltkrieg - ist dafür die nächstliegende, wenn auch nicht alleinige Erklärung. "Wirtschaft und Gesellschaft", seit 1922 in einer von der Witwe Marianne Weber getroffenen Zusammenstellung veröffentlicht und 1956 von Johannes Winckelmann neu vorgelegt, sollte in dem von Weber seit 1909 betreuten "Grundriss der Sozialökonomik" erscheinen. Der "Grundriss" sollte die gültige Zusammenfassung eines Wissensstandes vermitteln, den doch der Autor selbst unablässig bereicherte.

So viele Ausgaben von "Wirtschaft und Gesellschaft" es seit der Erstversion Winckelmanns - des überaus verdienstvollen, von der Weber-Forschung mittlerweile überholten Münchner Nachlassbearbeiters - auch erschienen sind - ein Buch diesen Titels hat Weber nicht mehr vollenden können. Es ist in seinen bisher geläufigen, verschiedentlich modifizierten Textgestalten eine Konjektur: eine zwar begründete, so doch letztlich unbeweisbare Annahme. Diese Annahme wird mittlerweile und insbesondere von den Herausgebern der Max-Weber-Gesamtausgabe verworfen.

Wohin gehört "Die Stadt" ?

Die Max-Weber-Gesamtausgabe, MWG gekürzelt, ist das herausragende editorische Vorhaben der gegenwärtigen deutschen Sozialwissenschaft. An ihrem Schwindel erregenden Umfang und ihrem Perfektionsdrang ist wiederholt Kritik geübt worden. 1981 begonnen, auf allein 20 Bände "Schriften und Reden" berechnet und 1984 mit ersten Ausgaben hervorgetreten, ist ihre Fertigstellung nicht abzusehen. Im Rahmen der MWG ist jetzt allerdings mit der Studie "Die Stadt" ein Hauptkapitel der bisherigen Kompilation "Wirtschaft und Gesellschaft" erschienen, das als ein weiterer Meilenstein der Weber-Edition bezeichnet werden darf.

Es ist diese vergleichende Studie zur Stadt der vielleicht am meisten übersehene Teil des Riesenwerkes "Wirtschaft und Gesellschaft". Jedem Leser der bisherigen Studienausgaben gab das scheinbar so schlüssige Inhaltsverzeichnis Rätsel auf. In der Studienausgabe von 1964, die hierzulande die Nachkriegs-Rezeption Webers insbesondere einer jüngeren Generation eröffnete, taucht erst als neuntes und abschließendes, wiewohl über 400 Druckseiten umfassendes Kapitel die "Soziologie der Herrschaft" auf. Darin findet sich der Abschnitt "Die nichtlegitime Herrschaft", versehen mit dem Klammerzusatz "Typologie der Städte". Diese 110 Seiten im hinteren Teil, zu denen der vom Schwarzbrot der "Soziologischen Kategorienlehre" im ersten Teilband erschöpfte Normalleser kaum mehr vorgedrungen sein dürfte, bergen nichts weniger als eine erste - und, wie bei Weber üblich, zugleich autoritative - Antwort auf die Frage nach der Singularität der abendländischen Entwicklung. Die "Leitfrage", die Wilfried Nippel, der Herausgeber der Neuausgabe innerhalb der MWG, in seiner Einleitung formuliert, lautet, "warum sich trotz der Ubiquität des Phänomens Stadt nur im Okzident ein sich selbst verwaltendes städtisches Bürgertum herausgebildet habe".

Regelung der "Erwerbschancen"

Man ahnt, dass die Unterordnung dieser Studie unter den Begriff der "nichtlegitimen Herrschaft" einem früheren Stoffplan Webers etspringt. Sie spiegelt den Stand von 1914. Der Blickwinkel ist allerdings irreführend. Zwar steht die Auflehnung gegen ältere Herrschaftsformen am Beginn der spätmittelalterlichen Bürgerherrschaft, wie sie sich in Gestalt von coniurationes, von Schwurbrüderschaften gegen feudale Hoheit verbündet und oft genug gewaltsam durchgesetzt hat; so in Mailand bereits 980 und in Köln im Jahr 1112. Aber Webers verUntersuchung der Stadt in vergleichender Perspektive beleuchtet eine solche Vielzahl von Typen der Stadt, dass die in Europa stattfindende, revolutionäre Usurpation der Herrschaft als einzigartige Sonderentwicklung überhaupt erst hervortritt.

Es ist ja gerade ein, wenn nicht der rote Faden der Weberschen Forschungen, die Einzigartigeit der abendländischen Entwicklung aus einem wahrhaft unvoreingenommenen Rundblick auf die Universalgeschichte zu gewinnen. Erst in dieser Perspektive wird deutlich, dass sich die Untersuchung der Stadt einfügt in das übergreifende Erkenntnisinteresse Webers. Seine das ganze, scheinbar so heterogene, ja disparate Werk durchziehende Fragestellung ist, warum es nur im Okzident zur Herausbildung einer (zweck-)rationalen Wirtschaftsführung in Gestalt des Kapitalismus und einer rationalen Verwaltung in Gestalt der uns vertrauten Staatsbürokratie gekommen ist; dergestalt, dass diese spezifischen Entwicklungsformen ihrerseits universalhistorische Wirkung entfalten konnten.

Nur auf dem Boden der mittelalterlichen Stadt konnten der moderne Kapitalismus und der moderne Staat gedeihen. Allein die okzidentale Stadtgemeinde, gegründet auf den freiwilligen Zusammenschluß einzelner Bürger im Gegensatz zur antiken und im Orient bis zum Anbruch der Moderne fortdauernden Abstammungsgemeinschaft, hat die rationale und das heißt zuallererst: friedliche, Regelung von "Erwerbschancen" ermöglicht. - Nebenbei vermag aus heutiger Sicht der Rückbezug der Fragestellungen Webers auf dessen politische Gegenwart, also auf die Ausdehnung der europäischen Herrschaft über die ganze Welt und deren unumkehrbare Umgestaltung nach eigenem Modell, einen politischen Kontext zu gewinnen, der in der Studie selbst naturgemäß ausgeblendet ist.

Weber sah in seiner eigenen Zeit den gefährdeten Höhepunkt einer zivilisatorischen Entwicklung, die in Gefahr stand, in das - sprichwörtlich gewordene - "stählerne Gehäuse der Hörigkeit" zu geraten. Weit davon entfernt, historische "Gesetze" zu behaupten, war Weber bemüht, "Chancen" des Handelns zu erkennen. In der Stadt fand die abendländische Rationalisierung der Lebensführung ihren historischen Ort. Städte hat es überall und seit den Anfängen der Geschichte gegeben. Nur im Abendland aber bildeten sie jenen eigentümlichen Raum bürgerlicher Freiheit aus, gekennzeichnet durch die Zurückdrängung feudaler oder jedenfalls nichtbürgerlicher Obrigkeit, wie sie überall sonst, ob in der Antike oder aber in Indien oder China, anzutreffen ist.

Max Webers Bemühen um Systematisierung, ja eher noch Bändigung eines ungeheuren Wissensstoffes macht die Lektüre nicht einfach. Die Editionsprinzipien der Gesamtausgabe mögen bei manchen Bänden überzogen wirken. Hier sind sie es nicht. Eine Leistung der Neuausgabe besteht zum Beispiel darin, den Kenntnisstand Webers in einer ungeheuren Fülle von Literaturnachweisen zu rekonstruieren. Es entsteht ein Text erstmals in gültiger Gestalt, an dem Weber insbesondere 1913/14 gearbeitet hat, um ihn der "Fron" - wie Wilhelm Hennis sie bezeichnet hat -, der Arbeit am "Grundriss" unterzuordnen, die ihrerseits unterbrochen wurde: durch den Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf Weber zunehmend mit politischen Stellungnahmen in Form von Zeitungsartikeln hervortrat.

Zur befreiten "Kür" hat Weber in der kurzen Spanne seines Lebens nach 1918 nicht mehr zurückfinden können. Die Untersuchung der "Stadt" ist ein Werk, das im Zusammenhang des Weberschen Denkens einen ganz eigenen Platz einnimmt. Dank der Leistung der MWG kann es endlich seinem Rang gemäß gelesen werden.Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 22/5: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 5: Die Stadt. Hg. Wilfried Nippel. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1999. 389 S., geb. 228 DM.

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