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„Dame im Sessel, schreibend (Stenographie, Schweizerin in Pyjama)„ von 1929.

© Lenbachhaus, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023 – Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München

Gabriele Münter (1877–1962): Dame im Sessel, schreibend (Stenographie, Schweizerin in Pyjama), 1929

Lenbachhaus, München

Eine Kolumne von Susanne Böller

Ich sehe sie täglich, viele Male, bewundere die Eleganz der Schreiberin und die treffsichere Ökonomie ihrer Schöpferin. Seit der Gabriele Münter-Ausstellung im Lenbachhaus 2017 liegt die „Dame im Sessel“ als Mousepad auf meinem Schreibtisch, ein für Kunsthistoriker*innen fragwürdiger Merchandise-Artikel, peinlich eigentlich.

Gabriele Münter malte „Dame im Sessel“ im Dezember 1929 in Paris. Nach den Murnauer Vorkriegsjahren, inmitten der Künstler*innenfreund*innen des Blauen Reiter, hatte sie 1915 bis 1920 in Schweden und Dänemark gelebt, dann in München, Murnau und Köln, seit 1925 in Berlin, bis sie, inzwischen 52 Jahre alt, wieder nach Frankreich aufbrach.

In Berlin hatte Münter sich mit der puristischen Bildsprache befasst, mit der Vertreter*innen der „Neuen Sachlichkeit“ in der Zwischenkriegszeit eine stilistisch kühle Wende vollzogen. Erst in ihren Pariser Bildern wird dies sichtbar, allerdings in einer wärmeren, geschmeidigeren Variante, die konstruktive Strenge mit expressiver Wirkung vereint.

Mit einer durchgehenden Linie eine Persönlichkeit einzufangen, diese Kunst hatte Münter in den Jahren in Skandinavien perfektioniert. Hier setzt sie in die präzise Zeichnung wenige kontrastierende Farbpaare, trägt sie flächig auf, reduziert Pinselstriche und Modellierung und steigert so die plakative Wirkung des Bildes. Mit der Gewichtung von Formen und Farben, dem Einsatz von Tönen unterschiedlicher Intensität, die große und sehr kleine Flächen bestimmen, führt sie asymmetrischen Hierarchien und Zwischentöne ein, die inhaltlichen Ambivalenzen wie Eleganz-Härte, Hingabe-Anonymisierung Raum geben.

Die selbst nicht sonderlich modebewusste Münter durchschaute das Styling-Prinzip der modernen Frau in Frankreich. Das It-Girl der 1920er Jahre war die „Garçonne“, die mit ihrem persönlichen Look Kreativität bewies. Zum Beispiel hier: lässiger, tiefschwarzer Pulli zu hellen Haremshosen à la Paul Poiret, dazu hochrote Ballerinas, die abendliche Tanzbereitschaft signalisieren. Trotzdem hat sie sich zum Diktat eingefunden, sitzt konzentriert mit Stenoblock im Sessel, vielleicht in einem Hotelzimmer. Um ihre Unabhängigkeit zu garantieren, arbeitete die „Garçonne“ häufig als Sekretärin.

Inzwischen sind die Ränder des Mousepads brüchig, seine Farben angeschmutzt, ob ich mir ein neues besorge, ein anderes Motiv? Besser nicht.

Susanne Böller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lenbachhaus in München.

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