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Schön übersichtlich. Die Galerien um den Lichthof der Stadtbibliothek Stuttgart, 2011 eröffnet und seither von einer Million Nutzern im Jahr besucht.

© imago stock

Gesellschaftliche Rolle der Bibliothek: Versammlungsorte des 21. Jahrhunderts

Der Neubau der Berliner Zentral- und Landesbibliothek hat endlich einen Platz. Die gesellschaftliche Rolle der Bibliothek wandelt sich derzeit rasant.

Die Leitung und sicher auch die Mitarbeiter der Berliner Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) jubelten, als am Dienstag der Beschluss des Senats bekanntgegeben wurde, neben ihrem Standort der Amerika-Gedenkbibliothek am Kreuzberger Blücherplatz einen Erweiterungsbau zu errichten, „für die Zusammenführung der Zentral- und Landesbibliothek unter einem Dach“. Endlich also kommt Bewegung in die Angelegenheit, nachdem das negative Votum des Volksentscheids zum Tempelhofer Feld den Senat jahrelang paralysiert hatte. Nicht nur die Wohnbaupläne gingen damals im Volkszorn unter, sondern auch das dort vorgesehene Neubauprojekt einer Stadtbibliothek aus einem Guss.

Dem gestrigen Jubel dürfte bei den Mitarbeitern auch ein Tropfen Wehmut beigemischt gewesen sein. Denn mit der Entscheidung für den Blücherplatz, wie das gesamte untergenutzte Areal an der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) der Einfachheit halber bezeichnet wird, kehrt der Senat an die Stelle zurück, wo vor genau dreißig Jahren schon einmal ein Erweiterungsbau entstehen sollte. Das Geld – 103 Millionen D-Mark – war vom Abgeordnetenhaus bereits bewilligt, der Architekturwettbewerb mit einem Ersten Preis für den Amerikaner Steven Holl abgeschlossen. Doch dann kam im November 1989 der Fall der Mauer dazwischen, und andere Prioritäten wurden gesetzt. Die Landesbibliothek war mit einem Mal doppelt vorhanden, gab und gibt es doch die Stadtbibliothek in der bis dahin Ost- Berliner Breiten Straße. Wie schon bei der Staatsbibliothek wurde nun das Modell der „einen Bibliothek in zwei Häusern“ realisiert: nicht geplant, sondern der Macht des Faktischen geschuldet.

Bibliotheken sind weltweit zu einer bevorzugten Bauaufgabe gereift

Wieder geht alles von vorne los. Ein neues „Bedarfsprogramm“ muss erarbeitet werden – dasjenige für das Projekt Tempelhofer Feld kann nicht einfach übernommen werden. Die Kosten sind ganz unbestimmt. Für das Lieblingsprojekt des damaligen Regierenden, gern als „Klaus-Wowereit-Gedenkbibliothek“ verspottet, waren 270 Millionen Euro in der Finanzplanung berücksichtigt worden. Die seither vorgenommene Wirtschaftlichkeitsberechnung kommt auf 360 Millionen Euro. Anderenorts wurden beispielhafte Stadtbibliotheken, wie in Amsterdam oder Stuttgart, für Summen von unter 100 Millionen Euro errichtet.

Am Blücherplatz wird nunmehr eine Nutzfläche von 37776 Quadratmetern angepeilt. Dabei ist allerdings ein vollautomatisiertes Hochregalsystem vorgesehen, das wesentlich mehr Bücher auf geringerer Fläche vorhalten kann.

Bibliotheken sind weltweit zu einer bevorzugten Bauaufgabe gereift. Nationalbibliotheken, meist in der jeweiligen Hauptstadt, ohnehin, und ebenso Universitätsbibliotheken. Aber gerade Kommunen bauen mehr denn je Bibliotheken. Vom „Bücherlager“, das das griechische Wort ursprünglich meinte, hat sich die Bibliothek zum öffentlichen Raum schlechthin entwickelt. Zum einen machen Bücher nur mehr einen Teilbereich des Angebots aus, weswegen Frankreich schon vor Jahrzehnten den Begriff der „Médiathèque“ geprägt hat, als Name eines tendenziell alle denkbaren Informations- und Speichermedien umfassenden Angebots. Legendär die hochlehnigen Sessel, in die man sich mit Kopfhörer einkuscheln konnte, um CDs zu hören; oder die Monitore für Film- und Fernsehkassetten.

Zum anderen reicht die Aufgabe einer Stadtbücherei längst über die Zurverfügungstellung von Medien hinaus. Kommunale Bibliotheken sind öffentliche Räume geworden; Freiräume für jedermann, ohne Ansehung der Person oder gar ihrer materiellen Mittel. Das ist im Übrigen keine deutsche oder europäische Marotte – weltweit ist erkannt worden, dass die zunehmend fragmentierte Gesellschaft Orte braucht, an denen sich Bürger als Teil eines Ganzen wahrnehmen können. Die USA, wo einerseits der Niedergang der lesebasierten Kultur am weitesten vorangeschritten ist, besitzen andererseits großartige und vom Publikum überflutete Stadtbibliotheken, ob in Neubauten wie in Seattle oder San Francisco oder ehrwürdigen Häusern wie in Boston und New York. Die Public Library zählt zur Grundausstattung der amerikanischen Gesellschaft.

Freihandbibliotheken sind das Maß aller Dinge

Der Bautyp Bibliothek hat im Laufe seiner mindestens 3000-jährigen Geschichte manche Wandlung erfahren, die tiefgreifendste durch die Einführung des Buchdrucks, der das unabsehbare Wachstum der Buchbestände zur Folge hatte. Der Pultlesesaal der von Michelangelo entworfenen Florentiner Biblioteca Laurenziana, gedacht für schwere, gebundene Handschriften, war schon bei seiner Ferigstellung 1571 überholt. Die Zurschaustellung der Buchbestände in den prachtvollen Wandschränken der Barockbibliotheken, ob in Prag oder St. Gallen, musste im 19. Jahrhundert der rationalen Konstruktion von Buchmagazinen weichen, die allein noch den Bestand bändigen konnten; Schinkel hat dazu den Plan eines nach damaligen Möglichkeiten feuersicheren Bücherei-Kastens vorgelegt.

Die konstruktiven Möglichkeiten des Eisens führten dann zu jenen weiträumigen Lesesälen, wie sie Henri Labrouste Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris verwirklichte, oder zu jenen überwältigenden Bücher-Domen, für die der Kuppellesesaal des British Museum in London Vorbild wurde.

Mittlerweile sind Freihandbibliotheken, wie sie im wissenschaftlichen Bereich wegen des schieren Umfangs der Bestände allenfalls Teilgebieten vorbehalten sind, das Maß aller Dinge: Die Fülle der in mehreren Etagen um einen gewaltigen Lichthof angeordneten Regale und Leseecken - wie im Stuttgarter Neubau von Eun Young Yi - verschüchtert nicht, sie verführt vielmehr zum Stöbern, zur Befreiung von Wissensdrang. Die Größe der Bibliothek ist kein Maßstab für den Grad ihrer Öffentlichkeit. Alvar Aalto hat in den 1930er Jahren im damals noch finnischen Viipuri quasi den Urtyp der skandinavisch-demokratischen, am menschlichen Maßstab ausgerichteten Ortsbibliothek geschaffen.

Gemeinsames Interesse an Gedrucktem und Gespeichertem

Warum nicht gleich „Volkshäuser“ bauen?, fragen manche – wenn doch die Nutzung des traditionellen Buches immer weiter abnimmt, zugunsten von Smartphones, die überallhin mitgenommen werden? Soweit man an beliebten Büchereien sehen kann, ist dies eine falsch gestellte Alternative. Menschen kommen nicht „einfach so“ zusammen. Das gemeinsame Interesse am Gedruckten oder sonst wie Gespeicherten, am physisch Greifbaren ist es, das den Anlass bildet.

Die Amerika-Gedenkbibliothek kann sich vor Zulauf nicht retten – im Tagesdurchschnitt drängen sich 4300 Besucher, bald anderthalb Millionen im Jahr, in den derzeit alles andere als idealen Räumlichkeiten. Aber sie war von Anfang an der Ort einer gesellschaftlichen Vision – des mündigen Bürgers, der nach eigenem Gusto durch die Regale streift und wagt, „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Dies ist der 1784 von Kant formulierte „Wahlspruch der Aufklärung“. Um die geht es, auch und gerade am Blücherplatz.

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