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Die Schönheit rettet uns – in ihr ist alle Wahrheit. Am Sonntag wurde Ferdinand von Schirach im Berliner Ensemble der Kleist-Preis 2010 verliehen. Von Schirach, geboren 1963 und Enkel des NS-Verbrechers Baldur von Schirach, lebt als Strafverteidiger und Autor in Berlin. In seinem Erzählband „Verbrechen“ verarbeitete er erstmals Rechtsfälle zu einem Buch. Dieses Jahr erschien im Piper Verlag sein zweites Buch „Schuld“.

© dpa

Rede zum Kleistpreis: Jeder kann zum Mörder werden

Eine Geschichte hat immer ihre eigene literarische Wahrheit: Die Rede zum Kleistpreis 2010.

Kleist schrieb am 22. März 1801 an seine Verlobte: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint.“ 125 Jahre später sagte Werner Heisenberg: „Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich.“ Heisenbergs Satz habe ich meinem Buch „Verbrechen“ vorangestellt. Ich weiß nicht, ob es eine Verwandtschaft ist – aber es ist das Thema, das mich seit langem beschäftigt: Die Frage nach der Wahrheit, die Wahrheit in der Literatur und die Wahrheit im Strafprozess.

Es gibt da diesen großartigen Film der Coen-Brüder, „Der unauffällige Mr. Crane.“ Ed Crane ist Friseur in einer Kleinstadt. Sein Leben ist langweilig. Seine Frau hat ein Verhältnis mit dem Kaufhausbesitzer. Es kommt zu Verwicklungen, schließlich tötet der Friseur den Kaufhausbesitzer. Seine Frau und er werden nacheinander wegen Mordes angeklagt. Ihr Strafverteidiger heißt Freddy Riemenschneider. Allein wegen dieser Figur muss man den Film lieben. Riemenschneider ist geldgierig, wohnt im teuersten Hotel der Stadt und isst jeden Tag Hummer mit Spaghetti – es gibt Leute, die sagen, Anwälte seien genau so.

In der besten Szene des Films steht der Anwalt im Gefängnis, das Friseur-Ehepaar sitzt auf Holzstühlen, ein Privatdetektiv ist genervt und blättert in seinen Notizen. Der Raum ist bis auf einen Tisch und ein paar Stühle leer. Durch ein Fenster fällt das Licht auf den Anwalt. Er steht dort wie unter einem Scheinwerfer auf einer Bühne. Auf seinem Gesicht bilden sich die Gitterstäbe als Schatten ab. Der Film ist in Schwarz-weiß gedreht, die Bilder sind hart und intensiv und endgültig. Und dann entwickelt der Anwalt die Verteidigungsstrategie für den Prozess. Er sagt: „Es gibt so einen Burschen in Deutschland. Fritz so und so. Oder heißt er vielleicht Werner? Egal. Er hat ’ne Theorie entwickelt. Wenn man etwas untersuchen will, ich meine wissenschaftlich, wie sich die Planeten um die Sonne drehen, aus was für einer Materie Sonnenflecken sind, weshalb das Wasser aus der Dusche kommt, naja, man muss sich das ansehen. Aber manchmal, da verändert die Betrachtung den Gegenstand. Man kann nie objektiv wissen, was passiert ist oder was passiert wäre, wenn man nicht mit seiner verdammten Nase drin rumgeschnüffelt hätte. Deshalb kann es nie Gewissheit geben. Indem man etwas betrachtet, verändert man es. Die nennen es das Unschärfeprinzip. Klar, es klingt bescheuert, aber sogar Einstein sagt, dass da irgendwas dran ist. Wissenschaft, Wahrnehmung, Realität – Zweifel. Berechtigter Zweifel. Ich meine, je genauer man etwas betrachtet, desto weniger weiß man. Das steht fest. Eine bewiesene Tatsache. Und vermutlich die einzige Tatsache, die zählt. Dieser Deutsche hat dafür sogar ’ne Formel aufgestellt.“

Natürlich habe ich Heisenbergs Unschärferelation nie verstanden – wer hat das schon, außer ein paar Leuten aus der theoretischen Physik, mit denen Sie nicht dauernd zu Abend essen wollen. Heisenberg hat gesagt, es sei unmöglich, zwei Eigenschaften eines Teilchens gleichzeitig exakt zu messen. Das läge nicht daran, dass unsere Messgeräte zu ungenau seien, es sei ein prinzipielles Problem.

Sehr vereinfacht gesagt: Wenn Sie den Ort eines Teilchens genau bestimmen, verändern Sie dadurch zwangsläufig seine Energie. Formuliert wurde die Theorie 1927, bis heute wurde sie nicht widerlegt. Und obwohl unsere täglich wahrnehmbare Welt auch danach gleich blieb, obwohl noch immer im Winter Schnee fiel, die Menschen sich Liebesbriefe schrieben und töteten, obwohl sie weiter in die Oper gingen, Kriege führten – diese Theorie veränderte alles. Plötzlich wurde klar, dass wir das, was wir glauben von der Wirklichkeit zu wissen, tatsächlich nicht sicher wissen können.

Als Kleist den Brief an seine Geliebte schrieb, gab es die Unschärferelation noch nicht. Ich habe gelesen, dass die Kleist-Forschung zumindest früher bei diesem Brief von der „Kant-Krise“ sprach. Kleist, so wurde von den Gelehrten gesagt, hätte Kants „Kritik der Urteilskraft“ gelesen und sei darüber in eine Depression geraten. Ich glaube das nicht: Menschen geraten durch ihr Scheitern in Krisen, durch Rückschläge, durch Liebe, durch Einsamkeit – aber nicht durch Bücher. Aber oft suchen wir uns die Bücher, die unsere Stimmungen verstärken oder wiedergeben – so, wie wir Musik aussuchen. Wir finden den, von dem wir glauben, er habe für uns geschrieben. Bei Kleist war es Kant, der ihm erklärte, weshalb er den Boden unter den Füßen verloren hatte, also das, was man Wirklichkeit nennt. Kleist ging es ziemlich schlecht, er war erfolglos, seine Stücke wurden zensiert oder verboten, nichts lief so, wie es laufen sollte, er ist total gescheitert. Ich kenne Kleists Gefühl, es steht in jedem seiner Briefe. Es ist ein alles umfassendes Gefühl der Fremdheit. Obwohl er unglaublich viele Menschen kannte, obwohl er Kleist hieß, war er einsam. Dieses Gefühl hängt eng mit der Suche nach Wahrheit zusammen: Nichts erscheint echt und nahe. Vielleicht hat er deshalb gestottert.

Ein Literaturkritiker sagte über eines meiner Bücher, es sei „fast annehmbar“, aber doch nur „geborgtes Leben“ und damit „das Gegenteil von Literatur“. Das ist ein interessanter Standpunkt. Eigentlich werden mir fast immer drei Fragen gestellt: Kann jeder zum Mörder werden? Gibt es den perfekten Mord? Und: Sind Ihre Geschichten denn wirklich wahr?

Ja, jeder kann zum Mörder werden, ja, es gibt den perfekten Mord und ja, die Geschichten sind ganz und gar wahr. Aber sie sind nicht wahr, weil sie der Realität entsprechen, sie sind wahr, weil sie Literatur sind. Stellen Sie sich eine vier Meter lange Akte vor, tausende Seiten Polizeiberichte, Vernehmungsprotokolle, Gutachten, Tatortfotos. Stellen Sie sich siebzig Stunden Gerichtsverfahren vor. Und dann nehmen Sie eine Kurzgeschichte. Was ist nun die Wahrheit? Was die Wirklichkeit? Eine kaum 15-seitige Geschichte oder eine vier Meter lange Akte?

Im Mittelalter soll es einen Kartographen gegeben haben, der die beste Karte der Welt herstellen wollte. Er wählte den Maßstab 1:1. Das Projekt scheiterte natürlich: Wahrheit entsteht nicht durch vollständige Abbildung, sie entsteht durch Formalisierung. Das ist in der Literatur so und das ist im Strafprozess so. Ein Richter kann nur die Beweise werten, die nicht im strengen Filter der Strafprozessordnung hängen blieben. Nur das, was dem Recht entspricht, wird gehört. Es ist also nicht die Wirklichkeit, die in einem Strafprozess abgebildet wird, es ist nur eine strafprozessuale Wahrheit, also eine formalisierte Wirklichkeit. Ein Mann tötet seine Frau. Es gibt keine ausreichenden Beweise für seine Schuld. Der Polizist ist erst verzweifelt, dann wird er wütend. Er droht Folter an, der Mann gesteht. Im Prozess sagt der Richter, das Geständnis sei nicht verwertbar. Der Anwalt rät dem Mann zu schweigen. Am Ende muss der Richter den Mann freisprechen: Vor dem Gesetz ist er kein Mörder. Die strafprozessuale Wahrheit des Prozesses ist also nicht die Wirklichkeit.

In der Literatur ist es ähnlich. Auch sie ist nur eine formalisierte Wahrheit. Der Schriftsteller schreibt, was er schreibt. Er nimmt die Worte, die er für passend hält. Es ist seine Geschichte – oder anders gesagt: Das Gehirn des Schriftstellers ist ein Filter wie die Strafprozessordnung. Eine Geschichte kann deshalb nie Abbildung der Wirklichkeit sein. Sie ist – analog zur strafprozessualen Wahrheit – literarische Wahrheit. Truman Capotes „Kaltblütig“, die vielleicht beste Darstellung eines Verbrechens, wäre nach der Auffassung unseres Literaturkritikers nur „geborgtes Leben“ und „das Gegenteil von Literatur“. Das Merkwürdige ist, dass das für die meisten Bücher gilt. Tolstois „Krieg und Frieden“, Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Hemingways „Paris – Ein Fest fürs Leben“, Kästners „Als ich ein kleiner Junge war“ – sind das alles jetzt doch Sachbücher? Ich würde auch gerne wissen, wie viel „geborgtes Leben“ in Nabokovs „Lolita“ ist. Jedenfalls bin ich dem Literaturkritiker dankbar, dass er mich ganz und gar unverdient in eine solche Gesellschaft erhebt.

Was machen wir nun mit einem solchen Begriff der Wahrheit, mit dem Wissen, dass wir die Wirklichkeit nicht erkennen können. Aufgeben? Nein, wir können damit leben, dass wir nur Theorien über die Wahrheit bilden können. Wir können es selbst im Strafprozess, wo diese Erkenntnis am klarsten und ihre Ergebnisse am fürchterlichsten sind. In einer meiner Geschichten legt sich eine Frau nachts an einen Pool. Sie sieht in den Himmel und denkt, es gäbe Milliarden von Sonnensystemen in dieser Milchstraße und Milliarden solcher Milchstraßen. Dazwischen sei es kalt und leer. Natürlich ist es aus einiger Entfernung belanglos, was wir tun. Wir leben nur einen Wimpernschlag, dann versinken wir wieder, und in dieser kurzen Zeitspanne können wir nicht einmal das scheinbar Einfachste: Die Wirklichkeit als das wahrnehmen, was sie ist. Unser Leben ist voller Zweifel, und für die meisten ist der Tod zumindest eine Unverschämtheit. Bei alldem geht es um nichts.

Aber am Ende bin ich froh, sagen zu dürfen, dass Kleist unrecht hatte. Heisenberg ebenso. Auch wenn Kant und die theoretische Physik und wohl jede vernünftige Überlegung dagegensprechen: Es gibt eine Wahrheit, eine unbestreitbare, glückliche Wahrheit – die Schönheit. Auch wenn wir alles verlieren, die Schönheit bleibt. Für sie lohnt es sich zu schreiben.

Phryne lebte im 4. Jahrhundert vor Christus in Griechenland. Sie war eine Hetäre, die schönste Frau der Welt, die Männer Athens verfielen ihr. Irgendwann wurde sie der Gottlosigkeit angeklagt: Sie hatte erklärt, sie sei so schön wie die Göttin Aphrodite selbst. Es kam zum Prozess. Der Ankläger brachte seine Beschuldigung vor – Gottesanmaßung –, die Zeugen bestätigten, was Phryne gesagt hatte. Es sah nicht gut für sie aus, der Prozess wurde unerfreulich. Aber plötzlich tat Phryne etwas Unerwartetes. Sie stand auf, ging in die Mitte des Gerichtssaals und sah lange ihre Richter an, jeden Einzelnen. Ihre Verteidigung war perfekt: Sie löste ihr Haar und zog sich aus. Nackt stand sie vor Männern. Die Richter saßen auf den Steinbänken, sie starrten diese wunderbare kluge Frau an. Ihr Urteil war einstimmig: Phryne wurde freigesprochen.

Die Schönheit rettet uns – in ihr ist alle Wahrheit.

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