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333. Verhandlungstag im NSU-Prozess am 10. Januar 2017. Die Angeklagte Beate Zschaepe und ihre Anwälte Mathias Grasel (r.) und Hermann Borchert.

© imago/Sebastian Widmann/imago stock&people

Kathrin Rögglas und Emmanuel Carrères Bücher über zwei historische Prozesse: Leid bezeugen, Recht sprechen, manchmal scheitern

Wie nähert man sich dem Justizsystem und seinen Funktionsweisen am besten literarisch? Und wie tariert man Opferschicksal und Täterhintergrund aus? Kathrin Rögglas Roman „Laufendes Verfahren“ und Emmanuel Carrères Gerichtsreportage „V 13“.

Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère macht keinen Hehl daraus, warum ihn der Prozess gegen die Attentäter von Paris, die am 13. November 2015 vor dem Stade de France, im Bataclan und auf Caféterrassen im Osten der Stadt 130 Menschen ermordeten, primär interessiert: „Ich will dabei sein“. Carrère nennt ein paar weitere Gründe, sein Faible für Rechtssprechung beispielsweise. Trotzdem fügt er noch an: „Der wichtigste Grund ist, dass Hunderte Menschen vor uns stehen und sprechen werden, die eines gemeinsam haben: die Nacht vom 13. November 2015 erlebt und überlebt oder diejenigen überlebt zu haben, die sie geliebt haben.“

An einem Freitag, den 13.

Also hat sich Carrère vom 8. September 2021 bis Ende Juni 2022 tagtäglich in eine „weiße Sperrholzkiste“ gesetzt. So nennt er den Prozesssaal, den man vor dem Justizpalast auf der Ile de la Cité gebaut hatte, um dem öffentlichen Interesse und mutmaßlichen Andrang genügen zu können. Carrère schrieb wöchentlich eine Kolumne für das Magazin des „Nouvel Observateur“ über seine Erfahrungen und das Gehörte an den Prozesstagen. Nun hat er diese Kolumnen für ein Buch überarbeitet und geordnet: „V 13.“, abgekürzt für Freitag, der 13. (Vendredi auf Französisch).

Carrères Buch ist als Reportage gekennzeichnet und hat trotz einer gewissen Kleinteiligkeit einen klaren Aufbau: Es geht erst um die Opfer und ihre Erzählungen, dann um die Täter, schließlich um das Gericht und sein Urteil und damit um das Wesen des Justizsystems: um Prozesskostenbeihilfe, die Anliegen der Nebenkläger, darum, wie man Schmerz vergütet. Oder um die Gründe der Verteidigung, diese Mandate übernommen zu haben: „Zu Anfang wird Leid bezeugt und am Ende Recht gesprochen.“

Der Zufall will es, dass zeitgleich mit Carrères Buch ein Roman erschienen ist, der sich gleichsam einem Prozess widmet, der sich wegen seiner Bedeutung, seiner Größe und seiner noch viel längeren Verhandlungsdauer mit dem Prozess in Paris vergleichen lässt. Kathrin Röggla hat mit „Laufendes Verfahren einen NSU-Prozess-Roman geschrieben. Röggla verfolgte den von Mai 2013 bis Juli 2018 dauernden Prozess zumindest zeitweilig, im Saal 101 des Oberlandesgerichts München, dazu studierte sie die aus fünf dicken Bänden bestehende Mitschrift, inklusive zahlreicher Beiträge in verschiedensten Medien.

Dass „Laufendes Verfahren“ keine Dokufiktion ist, sondern einen kunstvoll literarischen Zugang sucht, macht Kathrin Röggla von Beginn an deutlich. Ein „Wir“ hebt sogleich an mit seinen Prozessbeobachtungen, ein „Wir“, das sich eine Aufgabe gestellt hat: „Wir wollen einfach sehen, was in diesem Land geschieht, und wo kann man es deutlicher sehen als in den Gerichtssälen dieses Landes, vor allem in diesem historischen Prozess, den man einmal den Nachwendeprozess schlechthin nennen wird.“

Zehn Menschen hat die von 2000 bis 2007 dauernde Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund das Leben gekostet, und als die beiden Hauptattentäter 2011 kurz davor waren, von der Polizei festgenommen zu werden, sprengten sie sich zu Tode. Die dritte Mittäterin war Beate Zschäpe. Als Hauptangeklagte wurde sie am Ende des Prozesses für ihre Beteiligung an den Morden zu einer lebenslangen Haftstrafe mit schwerer Schuld verurteilt.

Die Schriftstellerin Kathrin Röggla

© S Fischer Verlag/jessica schaefer

Keiner, so Rögglas „Wir“, solle behaupten, „der Prozess gehöre nur ihm und niemandem sonst“. Auf diese Weise bezieht sich der Pluralis majestatis auf die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft. Rögglas Absicht geht über das Interesse für Opfer und Täter und die Rechtssprechung hinaus: Hier der Rassismus, dem diese Taten zugrunde lagen, dort blinden Flecke auf den rechten Augen, als die Mordserie lange einem kriminellen migrantischen Milieu zugeordnet wurde. Röggla unterstreicht diese Gesamtverantwortung, das letzten Ende Unabgeschlossene dieses Prozesses dadurch, dass sie häufig im Futur erzählt: „Der Bundesanwalt wird es jedenfalls langsam leid sein, im Sitzungssaal Rechtskunde zu machen. Die Verteidigung wird es leid sein, dort Rechtskunde zu machen, aber auf andere Weise.“

Das andere „Wir“ besteht in „Laufendes Verfahren“ aus einer Gruppe von Figuren, die dem Prozess auf der Tribüne beiwohnt: eine ältere Frau, die „Omagegenrechts“ heißt, der „Gerichtsopa“, der „Bloggerklaus“, eine Yildiz, die auch mal „Aktenyildiz“ oder „Grundsatzyildiz“ genannt wird, je nach Funktion, sowie ein pensionierter „O-Ton-Jurist“. Sie alle wollen „dem Handwerk des Richters“ zusehen, „dem Funktionieren der Maschine“.

Sie haben das „Bedürfnis nach dem Richtspruch, schon morgens nach dem Aufstehen dieses Bedürfnis, auf der richtigen Seite zu stehen, unsere Sehnsucht nach dem Urteil, das uns hierher begleitet hat.“ Das Urteil kann nur das sein, das schließlich gefällt wird mit der lebenslangen Freiheitsstrafe für Zschäpe. In diesem Widerspruch, von vornherein etwas zu erwarten und trotzdem die Justiz und das Recht objektiv in ihrer Gänze zu begreifen, bewegt sich Rögglas Roman. Wie der von Carrères ist er in kleinere und größere Kapitel eingeteilt – nur die Größe und Umfasstheit dieses Prozesses vermag er gerade einmal in Spuren abzubilden.

Wie Bienen gearbeitet

Es geht hin und her, kreuz und quer. Die fünf Figuren diskutieren mal dies, mal das, immer wieder gibt es Schlaglichter aus dem Prozess, aus dem Leben des Mördertrios, von den V-Leuten etc. Man muss sich schon genau mit dem Ganzen vorher beschäftigt haben, um hier Mehr- und Erkenntniswert herausziehen zu können.

Röggla legt viel Wert auf Rhythmus und Sound; sie arbeitet mit Wortneuschöpfungen, ungewöhnlichen Komposita, Redundanzen; es finden sich einzelne bemerkenswerte, bedenkenswerte Sätze, aber auch so einiger Leerlauf. Der Kern des Ganzen wird unter diesem Sound jedoch begraben: das Schicksal der Opfer, die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen, die vielen Rätsel, die nie aufgeklärt wurden. „Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber sie haben keinen Honig produziert.“ Das hat Ayse Yozgat zu den Richtern gesagt. Sie ist die Mutter eines der Ermordeten, die bis heute nicht weiß, warum ihr Sohn zum Opfer wurde. Röggla hat dieses Zitat ihrem Roman vorangestellt. Leider muss man auch ihr attestieren, keinen Honig produziert zu haben. Ihr ambitionierter Versuch, aus dem Prozess einen Roman, ein eigenständiges Kunstwerk zu machen, ist gescheitert.

Carrère ist betont subjektiv

Bei Emmanuel Carrère verhält sich das anders. Als Meister des autofiktionalen Schreibens wäre er sowieso nie auf den Gedanken gekommen, einen Prozess wie den in Paris literarisch zu beschweren. Carrère fürchtet sich nicht vor Subjektivität, nicht vor Schilderungen, wie die regelmäßigen Beobachter und Beobachterinnen zu einer verschworenen Einheit werden.

Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère

© Matthes & Seitz/Julia von Vietinghoff

Er erzählt von den Opfern, von den Ereignissen im Bataclan, selbst auf die Gefahr hin, voyeuristischen Gelüsten nachzukommen. Und er setzt sich intensiv mit dem einen noch lebenden Täter und dessen Helfershelfern auseinander, ohne dabei mit übertriebenem Verständnis zu agieren. Und trotzdem: „Meine innere Überzeugung ist labil und unentschieden.“

Immer mal wieder kommt Carrère darauf zurück, warum er dieses Buch überhaupt schreibt. So beeindruckt ihn ein Satz von Salah Abdeslam, ebenjenem Hauptangeklagten, der in letzter Minute seinen Sprengstoffgürtel nicht zündete, warum auch immer: „Alles, was ihr über uns Dschihadisten sagt, ist, als würdet ihr nur die letzte Seite eines Buches lesen. Dabei müsste man das Buch von Anfang an lesen.“

Die Befragung Zschäpes im Mai

Carrère stellt diesen Satz auf eine Stufe mit dem eines Bataclan-Überlebenden. Dieser hofft, dass der Prozess und all das, was hier zur Sprache gekommen ist, „zu einer kollektiven Erzählung“ werde. „Dafür sind wir hier“, schlussfolgert der Schriftsteller.

Diesem Ansinnen gerecht zu werden, zu einer Art Katharsis zu kommen, einem inneren Friedensschluss für alle, das versucht Carrère. Mit Erfolg. Einen großen Teil des komplexen Ganzen bekommt er ins Bild, die unterschiedlichsten Blickwinkel und Perspektiven der vielen Prozessakteure. Dagegen muss man im Fall von Röggla sagen: Allein die zweihundert Seiten Protokoll über die Befragung Zschäpes im Mai dieses Jahres durch den NSU-Untersuchungsausschuss des bayrischen Landtags, die ohne ordnenden Zugriff auskommen, erzählen mehr als ihr Roman davon, was in diesem Land geschah und immer noch geschieht.

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