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Auf in den Norden. Billy und Doloros begeben sich auf Hochzeitsreise.

© Paul Haase

Kinderbuch: Kapriolen am Kongo

Wiederentdeckt: Erich Mühsams elefantöse Fabel „Billy’s Erdengang“

Kamerun und Togo hießen einmal, das weiß heute kaum noch jemand, Deutsch-Westafrika. Kolonialgeschichte ist eine Geschichte von Unterwerfung und Ausbeutung, in Deutschland hat ihre Aufarbeitung erst vor wenigen Jahren begonnen. Ein wenig kann dabei vielleicht sogar ein wilhelminisches Kinderbuch aus dem Jahr 1904 helfen, das in einer prachtvollen Ausgabe jetzt noch einmal herauskommt.

Wobei sich der Fortschritt, den die weißen Eroberer mitbrachten, hier nur in der Eisenbahn zeigt und in den Ofenrohren, die nun ordentlich aus den einheimischen Lehmhütten herausragen. Als Zentrum der Zivilisation gilt Berlin, selbstverständlich träumen alle Deutsch-Westafrikaner davon, dort einmal hinzukommen. In dem Kinderbuch besteht die Bevölkerung ausschließlich aus Tieren. Die Helden, der „Elephant“ Billy und seine Braut Doloros, eine Giraffin, brechen zu ihrer Hochzeitsreise in die Reichshauptstadt auf, mit Lederkoffern, Gehstock und kariertem Regenmantel.

„Und unser Pärchen reiste hin / Zu allererst mal nach Berlin. / Es wehten lustig die Standarten / Am Fernbahnhof Zoolog’scher Garten.“ Billy und Doloros bewundern den Roland, der heute vor dem Märkischen Museum steht, sind von der Siegesallee beeindruckt – so etwas ist unbekannt im Elephantenland – und besuchen das Kaufhaus Wertheim, wo es „so schöne Sachen“ gibt. Dafür muss man wissen, dass der Band im Auftrag von Wertheim entstand. Die Geschichte und die Knittelverse von „Billy’s Erdengang“ lieferten die Schriftsteller Erich Mühsam und Hanns Heinz Ewers, die schwungvollen, bisweilen jugendstilhaften Illustrationen stammen von Paul Haase.

Billy und Dolores heiraten.
Billy und Dolores heiraten.

© Paul Haase

„Billy’s Erdengang“ war ein Bohèmeprojekt, sein Entstehen beruhte auf einer glücklichen topografischen Fügung. Ewers, damals Chefredakteur einer Kinderzeitschrift mit Verbindungen zu Wertheim, war in ein frei gewordenes Zimmer bei Mühsams Wirtin eingezogen. Er war, erinnerte sich Mühsam später in seinen Memoiren, „der einzige unter uns, dessen Freude an ungezwungenem und bewegtem Leben von praktischem Geschäftssinn gebändigt war“. Das Buch hätten die Autoren „in wenigen Stunden, einander mit immer lustigeren Einfällen überschreiend, hingehauen, und es erlebte viele Auflagen“.

Dieser anarchische Übermut, eine Lust am wilden Fabulieren und am Punkten mit Pointen, ist in jeder Zeile zu spüren. Wie im klassischen Bildungsroman wird Billys Werdegang geschildert, von seiner Geburt am Kongostrand über die strenge, dem Muster der schwarzen Pädagogik folgende Schulzeit und die Hochzeitsreise, die bis zum Nordpol führt, bis zum Tag, an dem er selber Vater wird. Der Klapperstorch bringt den Eheleuten ein „kleines Giraffoelephäntchen“.

Neuauflage eines Klassikers von Erich Mühsam.
Neuauflage eines Klassikers von Erich Mühsam.

© Abbildung: Paul Haase

Tusch und Happy End. Und die Moral von der Geschichte? Gibt es nicht, denn der Nonsens der Reime torpediert jede Ernsthaftigkeit. Über ein Wettrennen von Elefant, Nilpferd und Nashorn heißt es: „Die drei mit dicker Haut Begabten / Gemächlich immer weiter trabten.“ Und wenn Elefant und Giraffe einander küssen wollen, wird daraus ein verschlungenes Unterfangen: „Sie nähert ihm den schlanken Hals, / Er ihr den Rüssel ebenfalls.“

Erich Mühsam, Anarchist, Bürgerschreck und in seinen Berliner Jahren Stammgast des als „Café Größenwahn“ verulkten Cafés des Westens, war ein genialischer Dichter. Man hat noch den bösen Spott eines Chansons im Ohr, das er der Sozialdemokratie widmete: „War einmal ein Revoluzzer, / Im Zivilstand Lampenputzer.“ Er kämpfte publizistisch gegen den Ersten Weltkrieg und kam für seine Beteiligung an der Münchner Räterepublik in Festungshaft. Die Nationalsozialisten warfen ihn ins KZ. Die Karriere von Hanns Heinz Ewers, Kabarettist, Filmemacher und Bestsellerautor, verlief in entgegengesetzer Richtung. Er bekannte sich zum Faschismus und schrieb einen Roman über Horst Wessel.

„Billy’s Erdengang“ kommt ohne kolonialistische Ideologie aus. Nur die Schule ist grausam, geprügelt wird mit einem Stock aus Sykomorenholz. In seinem Tagebuch berichtet Mühsam, wie sehr er sich als Kind vor der Prügel des Vaters fürchtete. 1934 wurde er im Konzentrationslager Oranienburg erschlagen.

Erich Mühsam / Hanns Heinz Ewers / Paul Haase: Billy’s Erdengang. Eine Elephantengeschichte für Kinder. Walde + Graf, Berlin 2018. 32 Seiten, 14 €. Ab sechs Jahren

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