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Regisseur Alfonso Cuaron mit den Schauspilerinnen Nancy Garcia (l-r), Marina de Tavira und Yalitza Aparicio in Venedig.

© dpa

Lido-Lichtspiele (1): Kino für das Kindermädchen

Die Filmfestspiele von Venedig zeigen Netflix-Produktionen, die Cannes boykottiert. "Roma" von Alfonso Cuarón ist ein erster Triumph.

Von Andreas Busche

Das Leben auf dem Lido hat während der Filmfestspiele eine andere Taktung als in Cannes oder Berlin. Es mag am italienischen Laissez-faire liegen oder an der Tatsache, dass Venedig nicht von Industriemenschen überlaufen ist. Man hat die Ruhe weg. Noch am Morgen der Eröffnungsgala befinden sich die Aufbauarbeiten in den letzten Zügen. Und voreilige schlechte Presse über die sozialen Medien wird nicht staatsaktgleich mit einer Umstrukturierung des Programmschemas gekontert, sondern mit einer knappen E-Mail, die die Kritiker an das neue Embargo für die Weltpremieren erinnert.

Pfiffe für das Logo

Ähnlich entspannt nimmt das Lido-Publikum die starke Präsenz von Netflix zur Kenntnis. Als der Streamingdienst 2017 in Cannes debütierte, wurde das Logo auf der Leinwand noch mit Pfiffen kommentiert. In diesem Jahr verbannte Thierry Frémaux alle Netflix-Produktionen aus dem Wettbewerb. Viel ist darüber spekuliert worden, ob die Entscheidung gut für die Kinokultur sei – oder schlecht für Cannes.
Sollte Alfonso Cuaróns „Roma“ ein erstes Indiz sein, muss man wohl konstatieren, dass sich Cannes mit seinem Boykott ins eigene Fleisch geschnitten hat. „Roma“ ist einer der drei Filme, die der Streamingdienst im Mai zurückzog. Nun gehören die Kindheitserinnerungen des mexikanischen Regisseurs, gefilmt in nüchternem Schwarz-Weiß, zu den drei Netflix-Produktionen, die Venedig-Leiter Alberto Barbera in seinem Wettbewerb zeigt. Cuarón kehrt nach dem 3-D-Spektakel „Gravity“, der ihm den Oscar einbrachte, wieder in seine Heimat zurück. Und man spürt, wie sehr ihm die Geschichte am Herzen liegt. Er hat den Film seinem Kindermädchen gewidmet.

Flucht mit der Geliebten

„Roma“ spielt im gleichnamigen Mittelklasseviertel von Mexiko-Stadt, das indigene Hausmädchen Cleo (Yalitza Aparicio) kümmert sich um die Kinder eines Akademikerpaares. Von einem Tag auf den anderen brennt der Vater mit der Geliebten durch. Cleo versucht die Familie zusammenzuhalten, während die Mutter (Marina de Tavira) erst allmählich ihre neue Situation realisiert. Cuarón blickt unsentimental auf seine Kindheit in den frühen siebziger Jahren, zwischen Fußball-WM und Studentenprotesten, die paramilitärische Milizen niederschlugen. Ganz beiläufig zeichnet er dabei das soziale Panorama eines Landes im Umbruch: Roma als kindlichen Sehnsuchtsort, die Prachtmeile Insurgentes und den staubigen Slum Netzahualcóyotl, der damals aus wenigen Hütten bestand.

Doch noch Leinwand

Man muss Barbera fast dankbar sein, dass „Roma“ doch noch im Kino zu sehen ist – wo er unbedingt hingehört. Gleichzeitig meldet Netflix, Cuaróns Film wenigstens in ausgewählte Kinos zu bringen. Der Streaminganbieter zeigt sich einsichtig, er ist schließlich auch nicht die Ursache der aktuellen Kinokrise. Filme wie „Roma“ sind in Hollywood immer schwieriger zu realisieren, selbst für einen Oscar-Preisträger wie Cuarón. Dialogbereit zeigt sich übrigens auch Barbera, der zu Beginn der Woche noch indirekt seinen Posten zur Verfügung stellte, sollte sich Venedig zu mehr Gender-Parität im Wettbewerb verpflichten. Am Donnerstag verkündet nun auch die Biennale, die „50/50 2020“-Initiative zu unterzeichnen. Alberto Barbera darf seinen Job vorerst also behalten.

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