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Nicht mehr behütet. Julia Jakab hat als Írisz ihre Eltern verloren.

© Filmfest

LIDO Lichtspiele (5): Zu nah dran

Schön viel Gewackel: László Nemes und Mike Leigh setzen bei ihren Wettbewerbsfilmen auf die Handkamera.

Von Andreas Busche

In Venedig wird in diesen Tagen selbstverständlich auch viel über die Zukunft das Kinos nachgedacht – und damit ist nicht der Virtual-Reality-Wettbewerb gemeint, der zum zweiten Mal auf einer ehemaligen, dem Lido vorgelagerten Lepra-Kolonie stattfindet. Vielmehr können sich selbst Nicht-Traditionalisten noch immer noch so richtig an die zahlreichen Amazon- und Netflix-Produktionen im Wettbewerb gewöhnen. Als vor einigen Tagen vor Mike Leighs „Peterloo“ das Logo des Onlinehändlers auf der Leinwand erschien, konnte man im Kinosaal förmlich spüren, wie das Publikum den Atem anhielt. Mike Leigh nun also auch? Ein technisches Prinzip hat glücklicherweise auch in der neuen Ära weiter bestand: Kino ist Bewegung, ganz unabhängig von physischer Action. Die Bildfrequenz hat sich erhöht, aber das digitale Kinobild ist wie vor 120 Jahren eine Sequenz von Bewegungsabläufen.

Es gibt allerdings Filmemacher, die den Begriff „Bewegtbild“ ein wenig zu wörtlich nehmen. Die zweite Venedig-Woche beginnt mit zwei besonders auffälligen Vertretern dieser Spezies: László Nemes und Julian Schnabel suchen in ihren neuen Filmen aufdringliche Nähe zu ihrer Protagonistin beziehungsweise ihrem Protagonisten. Ihre Intentionen unterscheiden sich, der Effekt ist derselbe: Man fühlt sich am Schluss ziemlich gegängelt von der Handkamera, die den Figuren im Nacken sitzt, sie taumelnd umkreist, das Publikum auch körperlich in ein Gefühl der Desorientierung zu versetzen versucht.

Der Ungar László Nemes hatte das Prinzip der entfesselten Kamera in seinem Regiedebüt „Son of Saul“ von 2015 eigentlich schon perfektioniert. Kritiker warfen ihm diese Virtuosität damals auch vor, der Film folgte einem KZ-Insassen durch die Hölle eines Vernichtungslagers. Der Film nimmt so konsequent die Perspektive des Mannes ein, dass dessen eingeschränktes Blickfeld die Schrecken um ihn herum nur noch peripher erfasst. Der Nachfolger „Sunset“ betreibt ebenfalls einen immensen erzählerischen und logistischen Aufwand – ohne Mehrwert. Wirklich ärgerlich ist jedoch, dass Nemes das filmische Konzept seines Debüts als bloße Masche desavouiert.

Mein Bruder, der Anarchist

„Sunset“ erzählt die Geschichte der jungen Írisz (Juli Jakab), die in Budapest kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Hut-Geschäft ihrer verstorbenen Eltern für einen Job vorstellig wird. Arbeit bietet ihr der neue Besitzer zwar nicht an, sie erfährt dort aber von der Existenz eines Bruders, der eine Gruppe von Anarchisten anführt. Nemes wirft seine Protagonistin mitten hinein in die unruhigen Zeiten der sterbenden Donaumonarchie, es geht (möglicherweise) um Mädchenhandel, Geheimbünde, Verschwörungen. Der Film wirft viele Netze aus, vergisst sie aber wieder einzuholen. Írisz bleibt stets Subjekt zwischen den Kräften, die an ihr in alle Richtungen zerren, ihr Blickfeld trüben – durch Unschärfen, Rahmungen, schiefe Sichtachsen. Aber Nemes’ Stilwillen hat auch etwas Autoritäres, Kontrollierendes.

Dieser frei drehende Stil ist dem Thema von Julian Schnabels Films schon eher angemessen, wenn auch nicht sonderlich originell. Mit „At Eternity’s Gate“ hat er ein Biopic über seinen Malerkollegen Vincent van Gogh gedreht, den Willem Dafoe mit bodenständiger Nonchalance spielt. Auch Schnabel rückt seinem Protagonisten immer wieder auf die Pelle, aber bei ihm nimmt sich die Kamera mehr Freiheiten, irrlichtert mitunter schon mal durch die freie Natur.

Sie folgt eher den staunenden Blicken van Goghs statt diese klaustrophobisch einzuengen oder sie den Blickregime des Regisseurs zu unterwerfen. Das ist aller Ehren wert, aber nervt irgendwann trotzdem gewaltig. Man freut sich danach richtig auf den neuen Film von Altmeister Frederick Wiseman am Abend: klassisches Dokumentarkino ohne Immersions-Schnickschnack und pseudodokumentarisches Getue.

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