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Zerzaust. Aisling Franciosi in Jennifer Kents Film „The Nightingale“.

© Biennale

LIDO Lichtspiele (7): Vergewaltigung im Outback

Endlich kommt mit Jennifer Kents Film "The Nightingale" eine Regisseurin zum Zuge - und kann doch nicht überzeugen. Es ist nicht allein ihre Schuld.

Von Andreas Busche

Eine Woche kann sich verdammt lang anfühlen. Seit der Eröffnung schwelt die Kritik an Präsident Paolo Baratta und seinem künstlerischen Leiter Alberto Barbera, nur eine Regisseurin in den Wettbewerb berufen zu haben – befeuert von Barreras trotzigem Kommentar, eher zurückzutreten, bevor er einer „Quote“, die niemand gefordert hat, zustimmen werde. Dass sich dieser Standpunkt nicht halten ließe, muss Barbera klar gewesen sein, auch Jury-Präsident Guillermo del Toro sprach sich für mehr Gender-Parität aus. Inzwischen ist die Biennale der „50/50 2020“–Initiative beigetreten. Dennoch: Es ist lachhaft, den Strukturen der Branche die Schuld zu geben, wenn man sich als A-Festival in der Position befindet, diese mitzugestalten.

Der „Hollywood Reporter“ macht die italienische Macho-Mentalität für diese Unbeweglichkeit verantwortlich. Aber so einfach ist es nicht: In Cannes sieht die Sache nicht viel besser aus, während die „Quote“ bei der Kunst-Biennale (38 Prozent) und deren Architektur-Äquivalent (35 Prozent) etwas höher – wenn auch nicht sensationell – ausfällt. Es ist kein italienisches Problem, sondern eins der alten Garden. Die Viennale übernimmt in diesem Jahr Eva Sangiorgi, Locarno wird ab 2019 von Lili Hinstin geleitet. Kaum vorstellbar, dass es unter ihnen ein frauenfeindliches Machwerk wie Darren Aronofskys „Mother“ in den Wettbewerb schafft, das vergangenes Jahr in Venedig einen Sturm der Entrüstung auslöste.

Es sind solche Filme, die die vermeintliche Alternativlosigkeit infrage stellen. Auch dieses Jahr laufen in Venedig Filme, bei denen man sich wundert, ob es tatsächlich weltweit keine Regisseurinnen gibt, die ihre Sache besser, interessanter oder zumindest genauso schlecht machen. Eben darin liegt das Problem mit der Argumentation der Kritiker von „50/50“: Wenn es denn Frauen in den Wettbewerb schaffen, müssen sie es besser machen als ihre männlichen Kollegen. Die stehen nie unter diesem Rechtfertigungszwang.

Hoher Erwartungsdruck

Jennifer Kent ist unter diesen Umständen, für die sie nichts kann, kaum zu beneiden. Die australische Regisseurin ist die einzige Frau im Wettbewerb, und dass „The Nightingale“ erst gegen Ende des Festivals läuft, hat den Erwartungsdruck noch erhöht. Sie kommt allerdings mit Meriten. Ihr Debüt „The Babadook“ war einer der fantasievollsten Horrorfilme der jüngsten Zeit. Es ist schade, dass sie diese Qualitäten in „The Nightingale“ vergisst, einem düsterem Rape-Revenge-Drama in der australischen Outback.

Eine junge Irin (Aisling Franciosi) schlägt sich mit Hilfe ihres Scouts (Baykali Ganambarr), einem Aborigine, durch die Wildnis, um den Soldaten zu finden, der sie vergewaltigt und ihren Mann und ihr Baby getötet hat. Kent beherrscht die Genre-Regeln. Ihr Film leidet vielmehr darunter, dass sie dies unter Beweis zu stellen versucht: durch Darstellungen von Sadismus und rassistischer Gewalt, die stets eine Spur zu lakonisch inszeniert sind und oft auf einen kathartischen Moment abzielen. Die ungleiche Dynamik zwischen der Irin und dem Aborigine ist durchaus komisch, aber es gelingt Kent nie, Genre-Konventionen zu überwinden. Als einzige Regisseurin ist sie mit „The Nightingale“ unfair exponiert. Seltsame Paradoxie: Während Giorgos Lanthimos mit „The Favourite“ das tollste Frauen-Ensemble im Wettbewerb hat, muss Kent trotz weiblicher Protagonistin einen klassischen „Männerfilm“ zeigen.

Versöhnlich stimmt der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas, der mit „Our Time“ auch eine Art (modernen) Western gedreht hat – in Form eines Ehedramas. Reygadas und seine Frau Natalia Lopez spielen das Ehepaar, das auf einer Ranch in einer offenen Beziehung lebt. Doch die Abmachung ist immer schwieriger aufrechtzuerhalten: Juan wirft seiner Frau Ester Vertrauensbruch vor, während er sich zunehmend besitzergreifend verhält. Über drei Stunden entfaltet sich diese Demontage einer Ehe – wie üblich bei Reygadas in grandios offenen, meditativen Bildern, die auf eine äußere Dramaturgie zugunsten präziser Beobachtungen zwischenmenschlicher Abhängigkeiten verzichten. Es ist Reygadas’ zugänglichster Film, was bei ihm nicht viel heißt. „Our Time“ gehört zu den stärksten Beiträgen im Wettbewerb, Hoffnung auf einen Preis sollte man sich dennoch nicht machen.

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