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Der Winterpalast zum ersten Jahrestag der Revolution.

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Oktoberrevolution 1917: Wie die Sowjetunion entstand

Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution gibt es eine Vielzahl neuer Bücher, die den Übergang von der Monarchie zum Bolschewismus nachzeichnen.

Die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“, wie sie in der Sowjetunion bezeichnet wurde, hatte ihr zentrales Ereignis in der „Erstürmung“ des Winterpalasts in der russischen Hauptstadt St. Petersburg (damals Petrograd). So jedenfalls hat es das filmische Meisterwerk Sergej Eisensteins, „Oktober“ von 1927, in suggestive Bilder gebannt. Die historische Wirklichkeit war indessen weit prosaischer.

Die eigentliche „Machtergreifung“ – so nennt der Oxford-Historiker Steven A. Smith den entscheidenden Moment der Revolution – vollzog sich am 25. Oktober alten Kalenders. „Am Nachmittag erklärte Lenin, der seit Juli zum ersten Mal öffentlich auftrat, (...) dass die Regierung gestürzt sei.“ Am Abend wurde „das Winterpalais ,gestürmt‘ und die Provisorische Regierung verhaftet“.

Das in diesem Jahr erschienene und sogleich ins Deutsche übersetzte Buch von Smith, „Revolution in Russland“, ist eine von mehreren Publikationen zum 100. Jahrestag der bolschewistischen Revolution, die sich nach dem neuen Kalender am 7. November, also vor 100 Jahren ereignete. Für die Geschichtswissenschaft besteht eine der Besonderheiten der Revolution – wie sie im Folgenden gleichwohl bezeichnet wird – darin, dass ihre Darstellung 70 Jahre lang von ihren Verfechtern maßgeblich beeinflusst werden konnte. „Bis 1989 war die Deutung der Revolution eine der Fronten des Kalten Krieges“, konstatiert die russische Historikern Ljudmila Novikova in dem überaus inhaltsreichen Sammelband der Zeitschrift „Osteuropa“, „Revolution retour“, der die Frage nach der Bedeutung der Oktoberrevolution umkreist.

Auch die Bewertung der Revolution unterliegt dem Wechsel

Die Öffnung der Archive nach dem Ende der Sowjetunion erbrachte „eine Art ,goldener Ära‘ für die Aufarbeitung der Sowjetgeschichte“, urteilt Manfred Hildermeier, der sein monumentales Werk „Geschichte der Sowjetunion 1917–1991“ zum runden Datum neu herausgebracht hat. Helmut Altrichter, der sein Standardwerk „Russland 1917“ gleichfalls überarbeitet hat, betont, dass die Forschung seither eine neue Tiefendimension gewonnen hat. Etwa hinsichtlich der Vorgänge außerhalb der Metropolen Petrograd und Moskau, zumal an der nicht russischen Peripherie des Imperiums.

Das gilt vor allem für die Darstellung des Bürgerkriegs, der unmittelbar nach der Machtergreifung Lenins beginnt und das Land die folgenden vier, fünf Jahre in Gewalt und Chaos stürzt. Martin Aust, Osteuropahistoriker in Bonn, widmet zu Recht ein Viertel seines im Frühjahr erschienenen Buches „Die Russische Revolution“ der Geschichte des Bürgerkriegs an den unterschiedlichen Schauplätzen.

Damit folgt die Darstellung der Oktoberrevolution einem generellen Trend der Geschichtswissenschaft. Und fraglos ist der genaue Blick auf die Zeit um und nach der Revolution gerade in den ehedem (zwangs-)sowjetischen Ländern Mittelasiens und des Kaukasus unerlässlich, um heutige Konfliktlinien zu verstehen.

Die grundsätzliche Bewertung der Revolution hat seit dem seinerzeit in Deutschland heftig kritisierten, dreibändigen Werk von Richard Pipes über „Die Russische Revolution“ (dt. 1992/93) allenfalls Akzentverschiebungen erfahren. Dass sie nicht das Ergebnis eines organisierten Massenaufstandes insbesondere der klassenbewussten Arbeiter der Petrograder Rüstungswerke war, wusste man und behauptet auch heute niemand.

Und doch mündete der „Staatsstreich“ in das von Lenin ersehnte Totalereignis. „Was in den Wochen und Monaten nach der Machtergreifung folgte“ – so Dietmar Neutatz in seiner straffen Gesamtdarstellung der Sowjetgeschichte von 2013 –, „stellte sich allerdings als ein grundlegender, gewaltsamer Umsturz der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse heraus und rechtfertigt (...) durchaus die Bezeichnung ,Revolution‘ .“

Zar Nikolaus II.
Zar Nikolaus II.

© imago/Arkivi

Die Ursachen liegen klar zutage. „Der Zusammenbruch des zaristischen Regimes im Februar 1917 wurzelte in einer durch wirtschaftliche und soziale Modernisierungen hervorgerufenen Krise, die durch den Ersten Weltkrieg noch erheblich verschärft wurde“, so einleitend Smith in seinem knapp und klar geschriebenen Buch, das sich ausdrücklich an ein breites Publikum richtet.

Pipes’ opus magnum machte aus seiner Abneigung gegen die Bolschewiki keinen Hehl. Die von ihm in den Mittelpunkt gestellte These der Tradierung einer patrimonialen Herrschaft vom Zarismus zur Roten Diktatur fand keine Unterstützung. Natürlich denkt man sofort an Max Weber.

Aber wie wenig die Kategorien von Weber – der doch die Revolution von 1905 genau verfolgte und daraus seine scharfsichtige Abhandlung „Russlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus“ gewann – von den Historikern angewandt werden, ist erstaunlich. Auch die von Pipes so negativ bewertete „Intelligenzija“, jene eigentümliche Zwischenschicht der späten Zarenzeit, findet kaum Aufmerksamkeit.

Die neueren Darstellungen stellen deutlicher denn je die ökonomischen Ursachen des Roten Oktober heraus. Smith weist auf die rapide zunehmende ökonomische Potenz und den dadurch sich verschiebenden geopolitischen Einfluss der westlichen Industriemächte einschließlich des Deutschen Kaiserreichs hin.

Alexander Kerenski, Ministerpräsident nach der Februarrevolution.
Alexander Kerenski, Ministerpräsident nach der Februarrevolution.

© imago/United Archives

Dann kam 1917: „Als es Sommer wurde, fiel die Wirtschaft einfach auseinander“. Die Provisorische Regierung, hervorgegangen aus der Märzrevolution, die allein die Zarenherrschaft beendet hatte, druckte Papiergeld, „so dass die Inflation astronomische Höhen erreichte“. Die Getreideversorgung versiegte: „Brot war besonders knapp.“ Kritisch wurde die Lage in den Metropolen. „In der zweiten Hälfte 1917 fielen die Reallöhne in den beiden Hauptstädten um 50 Prozent.“ 

Dass die Revolution in wirtschaftlicher Hinsicht keine Besserung erbringen konnte, beschreibt Roland Götz in einem wirtschaftshistorischen Aufsatz in „Osteuropa“. Er konstatiert knapp: „Die Revolutionäre von 1917 zerstörten Russlands im Entstehen begriffenen Kapitalismus, hatten aber keine ausgearbeitete Vorstellung von dem Wirtschaftssystem, das ihn ersetzen sollte.“ Erst nach und nach hätten die Bolschewiki „ein theorieloses und inkonsistentes Planungssystem“ entwickelt. Es funktionierte bekanntlich nie.

Den einfachen Soldaten mangelte es an Nationalbewusstsein

Es war 1917/18 auch nicht oberste Priorität. Für die Bolschewiki stand neben der raschen Beendigung des Krieges die „Agrarfrage“ im Vordergrund. Wie niemals wieder wurden die Bauern zu Verbündeten der Bolschewiki, die doch mit ihnen nichts Gutes vorhatten. „Nur wenige Bauern trauerten der Romanow-Dynastie nach“, urteilt Smith. Die zaristische Verwaltung wurde „vertrieben und durch von Bauern gewählte Ortskomitees ersetzt (...) – im Juli gab es sie in fast allen der landesweit 15.000 Dörfer und Ortschaften“. Kaum waren die Bolschewiki an der Macht, kehrten jedoch die alten Verhältnisse zurück: Was die Bauern „in Konflikt mit der Regierung brachte, war die Verteilung von Lebensmitteln“. Bald wurden sie im Bürgerkrieg von der Roten Armee gewaltsam requiriert.

Eine interessante Frage ist die nach dem Patriotismus der russischen Untertanen. Das Zarenreich war ein Imperium, aber gerade kein Nationalstaat europäischen Musters. Am Vorabend des Weltkriegs war die Politik erfüllt von revolutionären Parolen. „Die Vordringlichkeit des Klassendiskurses verdankte sich zum Teil dem Fehlen einer nationalistischen Politik, in der sich die gewöhnlichen Menschen hätten finden können“, so Smith. Das bedeutet nicht, dass es kein Nationalbewusstsein gab; schon während der unmittelbaren Revolutionstage mussten die Bolschewiki dem patriotischen Drängen der aufständischen Soldaten nachgeben.

Es ist unstrittig, dass die Rote Armee mit ihren kriegserfahrenen zaristischen Offizieren den Bürgerkrieg mit der Mobilisierung des Patriotismus gegen die als bloße Handlager der „Interventionsmächte“ verachteten „Weißen“ gewann. Der „Entwicklung des Nationalbewusstseins bei den ,kleineren Völkern‘ “ und deren Sezession widmet im Übrigen Altrichter einen umfangreichen, höchst informativen Teil seines Buches.

Wladimir I. Lenin im Smolny-Palast.
Wladimir I. Lenin im Smolny-Palast.

© imago/Leemage

Gerade in der Frage des Nationalen gaben Lenins Nachfolger die Prinzipien des Oktober am sichtbarsten preis. „Die stärkste Abweichung von der Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre“, so Aust, „galt jedoch dem Status des russischen Volkes. Stalins Sowjetpatriotismus setzte 1934 das russische Volk, seine Kultur und seine Geschichte als Erstes unter Gleichen, (...) als großen Bruder der übrigen kleinen Brüder.“ Es ist dieses Element der Stalin’schen Politik, an das Wladimir Putin nahtlos anknüpfen konnte – und damit sichtbar macht, dass von den Zielen der Oktoberrevolution nichts geblieben, nichts mehr gültig ist.

Etwas anderes schon: „Dass die Prägungen des ,Sowjetmenschen‘ “ – so der Mainzer Historiker Jan Kusber in „Osteuropa“ – „bis heute existieren und sich bis heute reproduzieren, ist vielleicht das wichtigste Erbe des Roten Oktober.“ Genau das hat Karl Schlögel in seinem, hier bereits vorgestellten Buch „Das sowjetische Jahrhundert“ anschaulich gezeigt.

Die Kirche stand abseits - und versuchte ihren Platz zu halten

Und noch etwas blieb, die orthodoxe Religion und Kirche. „Dieser ganze politische Rummel, selbst diese Katastrophe erreichen die Tiefen des kirchlichen Lebens nicht“, lässt der zum Priester gewordene Wirtschaftswissenschaftler Sergej Bulgakow eine Figur in seinem Prosastück „Beim Gastmahl der Götter“ sagen. Es erschien 1918 im Sammelband „De profundis“ – oder erschien gerade nicht mehr, denn im Herbst 1918 „entfesselte Lenin den Roten Terror, der die Grundlage für das Gewaltregime der Bolschewiki darstellte. Auch die Zensur, auf die der Revolutionsführer zunächst publikumswirksam verzichtet hatte, wurde erneut eingeführt.“

So beschreibt Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands in St. Gallen, die Umstände dieser von ihm herausgegebenen und erläuterten Sammlung konservativorthodoxer Reaktionen auf die Revolution, die erst 1967 in einem Pariser Exilverlag als Buch erschienen war. Sie gibt Einblick in etwas, das nicht erst seit Rilke als „russische Seele“ gilt, und zeigt eine andere Seite der russischen Kultur dieser Zeit – eine andere als die im Westen seit jeher so bewunderte künstlerische Avantgarde und ihre Hervorbringungen.

Pjotr Struve, einst Mitstreiter Lenins, dann Abgeordneter der Duma und schließlich Exilant 1918, schreibt in ebendiesem Jahr, „generell“ sei „in der russischen Revolution keinerlei kreatives Potential vorhanden und zu erkennen“.

Solche Fehleinschätzung mag helfen zu verstehen, warum die „Weißen“ gegen die „Roten“ so kläglich scheiterten, und eben nicht nur militärisch. Von aktuellem Interesse ist jedoch Struves Schlussfolgerung. Er beschwört „die nationale Idee als eine heilende, gestaltende Kraft, ohne die weder die Wiedererstehung des Volkes noch die Wiedererschaffung des Staates möglich“ seien. Sollte sich Wladimir Putin bei Struve bedient haben?

Was nun war die Russische Revolution? War sie eine Revolution im eigentlichen Sinne, nur der „Oktoberaufstand“ – so Altrichter – oder eher der Ausdruck einer gesellschaftlichen Bewegung, Folge der nachholenden Modernisierung des Zarenreichs? „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, war das Buch des amerikanischen Journalisten John Reed überschrieben, der die Revolution in Petrograd erlebte – jahrzehntelang das Hausbuch aller Sowjetfreunde. Es ist, gelinde gesagt, beschönigend.

Doch wohin auch immer das Pendel der Forschung ausschlagen mag, es bleibt gültig, was die Herausgeber des Sammelbandes „100 Jahre Roter Oktober“ feststellen: „Wie kaum ein anderes Ereignis markiert der Staatsstreich der Bolschewiki in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober (...) eine historische Wasserscheide, sowohl für Russland als auch im Weltmaßstab.“ John Reeds Buchtitel trifft es, so oder so.

Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium. C.H. Beck Verlag, München 2017. 280 S., 14,95 €.

Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. M. e. zus. Kapitel über das postsowjetische Russland 1991–2016. C.H. Beck Verlag, München 2017. 1348 S., 49,95 €.

Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. C.H. Beck Verlag, München 2013. 688 S., 29,95 €.

Stephen A. Smith: Revolution in Russland. Das Zarenreich in der Kriese. Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt 2017. 496 S. m. 20 Abb., 39,95 €.

Jan Claas Behrends, Nikolaus Katzer, Thomas Lindenberger (Hrsg.): 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution. Ch. Links Verlag, Berlin 2017. 350 S., 25 €.

Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hrsg.): Revolution retour. 1917–2017: Vorwärts, und stets vergessen. Osteuropa H. 6-8/2017, Berlin 2017. 480 S. m. 76 Abb., 32 €.

Ulrich Schmid (Hrsg.): „De profundis“. Vom Scheitern der Russischen Revolution. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 572 S., 28 €.

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