zum Hauptinhalt

Zum Abschluss der Max-Weber-Gesamtausgabe: Notizzettel und Stoffsammlung

Ein Jahrhundertprojekt ist vollbracht

Max Weber ist ohne Zweifel der bedeutendste deutsche Sozialwissenschaftler. Die Gesamtausgabe seiner zu Lebzeiten verstreut publizierten Schriften ist das – nächst der Marx-Engels-Gesamtausgabe – größte sozialwissenschaftliche Editionsprojekt deutscher Sprache. Es hat, von der Konstitution des Herausgeberkreises im Jahr 1975 über das Erscheinen der ersten Bände im Jahr 1984 bis zum Abschluss in diesem Jahr 2020 – dem Jahr des 100. Todestages Webers – immerhin 45 Jahre gedauert. Vier der fünf Gründungsherausgeber sind darüber verstorben, einen einzigen Nachfolger nur hat der kleiner werdende Kreis aufgenommen; und auch der hat seine Professorenlaufbahn inzwischen beendet. 1984 erschien der erste Band der Max-Weber-Gesamtausgabe (im Folgenden: MWG), der mit der berühmten „Landarbeiterenquete“ das Frühwerk des Mitbegründers der Soziologie in Deutschland vorstellte. Im selben Jahr führten die in Band 15 versammelten Schriften „Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918“ unmittelbar zum politischen Publizisten und Beinahe-Politiker Weber.

Namhafte Gesamtherausgeber

So schien die Notwendigkeit wie die Aktualität des ausgreifenden Editionsprojekts der MWG mit einem Schlag gerechtfertigt, zumal seit der Konstitution des Herausgeberkreises bereits neun Jahre vergangen waren. Dass es aber weitere drei Jahrzehnte dauern würde, bis nun in diesem Jahr 2020 tatsächlich das Ende erreicht worden ist, nach insgesamt 47 Bandnummern in den drei Abteilungen der Werke, Briefe sowie Vorlesungsmitschriften, war dennoch nicht abzusehen. Erst eine spätere Generation wird das Riesenwerk der MWG selbstverständlich benutzen können, während sich unter den Zeitgenossen der zähen Erscheinungsfolge neben Erleichterung auch eine gewisse Erschöpfung breitgemacht haben dürfte. War’s diesen Aufwand wert?

"Historisch-kritisch", ein problematisches Unterfangen

Ein großes Ja und ein kleines Nein! Ein großes Ja, weil Max Weber (1864-1920) so turmhoch inmitten seiner Zeitgenossen steht und in seinem als Steinbruch hinterlassenen, durch den vorzeitigen Grippetod weitgehend Fragment gebliebenen Lebenswerk unzählige Probleme benannt und erörtert hat, die uns in unverminderter Aktualität beschäftigen. Dieses Lebenswerk in gültiger Textgestalt vor Augen zu stellen, war und ist aller Anstrengung wert. Ein kleines Nein, weil die Geschichte dieser Edition wie auch ihre tatsächliche Ausführung manchen Anlass zu Kritik bieten, die schon bei Beginn des Unternehmens geäußert wurde. Es beginnt damit, dass das Herausgebergremium, so klangvoll es unter anderem mit M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen – beide mittlerweile verstorben – sowie Wolfgang Schluchter, besetzt war, manch’ anderen ausgewiesenen Weber-Forscher auch in der Folgezeit von der Mitarbeit fernhielt. Wichtiger ist die Frage, was eine „historisch-kritische“ Ausgabe – mit Ausnahme der so viele Jahrzehnte lang ersehnten Briefbände – bei einem Autor soll, zu dessen Werk kaum Manuskripte oder gar unpublizierte Texte überliefert sind, die die schier unüberbietbare Perfektion der MWG rechtfertigen könnten. Vergleicht man die MWG mit der in etwa zur gleichen Zeit, aber in wesentlich kürzerem Zeitraum entstandenen und so viel handlicheren Gesamtausgabe des engen Freundes und Gesprächspartners Ernst Troeltsch, so kommt man schon ins Grübeln, was den Wissenschaftsbetrieb anlangt. Nebenbei sei nicht verschwiegen, dass der Verlag – Webers „Hausverlag“ J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) – alsbald daran ging, auf der Grundlage der unvermeidlich teuren MWG eine erschwingliche Studienausgabe der wichtigsten Einzelbände der MWG herauszubringen.

Endlich eine gültige Textgestalt

Andererseits sind wir mit der MWG am äußersten Punkt der Textgenauigkeit angelangt, der sich wohl überhaupt erzielen lässt. Dies in Anbetracht der Arbeitsweise des Gelehrten, der etwa den epochalen Vortrag „Politik als Beruf“ von 1919 nach einem Stichwortzettel frei gehalten hat; der, weit wichtiger, riesige Stoffsammlungen akkumulierte, um sie unabgeschlossen liegen zu lassen, weil sein Interesse bereits dem nächsten Jahrhundertproblem sich zugewandt hatte. Zumindest die Neuordnung des Textmassivs von „Wirtschaft und Gesellschaft“ – schon der überlieferte Titel ist falsch – rechtfertigt den Aufwand, die Überlieferungsgeschichte haarfein aufzudröseln.

So steht nun endlich das Werk Max Webers in bleibender Textgestalt vor uns. Wenn eines aus den Sozialwissenschaften, dann war dieses Lebenswerk den enormen Aufwand wert.

Hinweise zur Lektüre:

Die Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) ist seit ihrem Beginn 1975 bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt (mehr: https://mwg.badw.de/das-projekt.html).

Die MWG umfasst 45 Bände (bzw. Bandnummern; durch Teilbände insges. 54 Bücher) in drei Abteilungen: I. Schriften und Reden, II. Briefe, III. Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften. Der erste Band erschien 1984; die Abteilungen wurden nacheinander in den Jahren 2018, 2019 und 2020 abgeschlossen. Jedem Band ist ein editorischer Bericht, vor allem aber eine umfangreiche Einleitung der jeweiligen Bandherausgeber vorangestellt. Die wichtigsten Bände der MWG erscheinen textgleich und mit Angabe der entsprechenden Seitenzahlen der MWG, jedoch ohne den umfangreichen editorischen Apparat, als Studienausgabe. Die MWG wie auch die weitere, hier vorgestellte Literatur ist erschienen in Max Webers „Hausverlag“, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen (https://www.mohrsiebeck.com). In den Briefbänden der MWG ist die Korrespondenz nachzulesen, die Weber mit dem Verleger Paul Siebeck über seine Publikationsabsichten führte.

Im Artikel zu Max Weber von Bernhard Schulz wird vor allem auf die beiden Bände der MWG zurückgegriffen, hrsg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube: Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904-1911 (MWG 1/9, 2014. 994 S., 389 €). sowie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904-1920 (MWG 1/18, 2016. 764 S., 316 €. Studienausg., 320 S., 26 €).

Im Unterschied zu den zuallermeist in verschiedenen, vielfach seit ihrer Erstveröffentlichung unveränderten Ausgaben vorliegenden Schriften Webers bedeutete die Veröffentlichung der bis dahin unzugänglichen Briefe Webers das lang erwartete Novum der MWG. Die – enorm zahlreichen – Briefe bieten einen eigenen Zugang zu Werk und Person. Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke,beide eng an der Erstellung der MWG beteiligt, haben unlängst zwei Auswahlbände herausgebracht, die die Persönlichkeit Webers hervortreten lassen: Max Weber: Reisebriefe 1877– 1914 (241 S., 29 €) sowie Max Weber: Gelehrtenbriefe 1878–1920 (257 S., 29 €).

Gangolf Hübinger, Mitherausgeber der MWG, hat das Buch vorgelegt: Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biographie (2019. 419 S., 69 €). Es unternimmt, was die zum 150. Geburtstag Webers 2014 erschienenen Biografien nicht ausreichend zu leisten vermochten, eben eine Darstellung des intellektuellen Werdegangs Webers sowie seiner Stellung im Kontext der Diskussionen um 1900. Wolfgang Schluchter, MWG-Mitherausgeber von Anbeginn und die treibende Kraft der Edition, hat jetzt zumeist unveröffentlichte Studien zu Weber als Beiträge zu einer – wie er es nennt – „Theoriegeschichte in systematischer Absicht“ zusammengefasst: Mit Max Weber (2020. 289 S., 59 €). - Beide Bücher sind anspruchsvoll, nicht zuletzt, weil sie die enorme Spannweite der weberschen Forschung und Theoriebildung sichtbar machen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false