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Anne Frank

© picture alliance/dpa

Lehren aus Anne Franks Tagebuch: Margot darf nicht husten

Was wirklicher Lockdown bedeutet: Anne Frank hat die Angst in ihrem Amsterdamer Versteck beschrieben. Unsere Corona-Gegenwart wirkt dagegen trivial.

Millionen haben das Tagebuch der Anne Frank gelesen. Heute verschafft es einen ganz neuen Blick, der unser Lockdown doch eher trivial erscheinen lässt. Kaum hatte Anne Frank ihren 13. Geburtstag gefeiert und das ersehnte Tagebuch bekommen, mussten sie und ihre Familie überstürzt in dem Versteck im mittlerweile berühmtesten Hinterhaus der Welt untertauchen. Zwei Ehepaare, drei Teenager und ein Junggeselle teilten sich fortan eine ziemlich kleine Wohnung. Kein Raum für Social Distancing. Sie mussten von morgens um acht bis abends um sechs unhörbar sein, sie konnten kein Wasser laufen lassen und das Klo nicht benutzen. Die Lagerarbeiter in den Räumen unter ihnen hätten sie sonst gehört und an die Gestapo verraten können. Krank werden durften sie nicht, einen Arzt konnten sie nicht aufsuchen. Als sie Anfang Juli 1942 untertauchten, schleppte sich Annes 16-jährige Schwester Margot mit einer schweren Grippe herum. Anne trug in ihr Tagebuch ein: „Wir haben Margot verboten, nachts zu husten (...) und geben ihr große Mengen Codein.“

Träume vom Frieden

Nach einer Woche im Versteck notierte Anne: „Ich träume hier so schön. Aber die Wirklichkeit ist, dass wir hier sitzen müssen, bis der Krieg vorbei ist.“ Von Sommerferien und Reisen träumte sie nicht. Es ist „die Stille nämlich, die mich abends und nachts so nervös macht.“ Kein Protest, keine Depression, kein Ausrasten hätte sie dem Ende der Isolation näher gebracht. Das Kind Anne, überdreht und quirlig, geht allen auf die Nerven. Netflix, ZOOM, Instagram standen ihr im besetzten Amsterdam auch nicht zur Verfügung. Anne liest ihre Bücher, macht Unterricht beim Vater und ihre Hausaufgaben. Das Tagebuch ist ihre Gesprächspartnerin „Liebe Kitty“. Auf dem Dachboden erhascht sie durch ein Fensterchen ein Stück Himmel und träumt von draußen, von der Zukunft.

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Anders als die Erwachsenen liebt sie den viertelstündigen Schlag der Turmuhr der Westerkerk, weil er die Realität in ihr Verließ lässt. Ende September, da ist sie fast drei Monat untergetaucht, schreibt sie: „Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals hinausdürfen und ich habe große Angst, dass wir entdeckt und dann erschossen werden“. Keine „angenehme Aussicht“, fügt sie lakonisch hinzu.

In unserer Corona-Quarantäne ist niemand interniert. Eingeschlossen sind nur die Alten in den Seniorenheimen, wo auch der Tod lauert. Familien können laut sein, singen, essen, telefonieren oder zoomen und sogar zum Postkasten laufen. Sie können Zeitungen kaufen, Nachrichten schauen, und wird es ihnen mit den Schreckenszahlen der Pandemie zu viele, dann schauen sie putzige Tierfilme oder James Bond oder Amazon prime. Nichts dergleichen war den Versteckten im Hinterhaus vergönnt und das rettende Kriegsende war weiter weg als der Impfstoff gegen Covid 19.

Bomben fallen, das Haus dröhnt

Sie hielten durch, mürbe, verzweifelt zuweilen, oft hungrig, doch auch gelassen. Als die Bomber 1944 in der Nähe ihre Last abwarfen schrieb Anne: „Das Haus dröhnte und die Bomben fielen. Ich drückte meine Fluchttasche an mich, mehr, um mich an etwas festzuhalten, als um zu flüchten, denn wir können ja doch nicht weg. Im Notfall ist die Straße für uns genauso lebensgefährlich wie eine Bombardierung.“

Die komplizierte Gruppendynamik der Hinterhaus-WG verschärft den Druck. Das tägliche Einerlei macht alle schmallippig und genervt. „Unsere Gedanken haben genauso wenig Abwechslung wie wir selbst. Wie bei einem Karussell dreht sich alles von Juden zum Essen, vom Essen zur Politik“, schreibt Anne, als sie 15 Monate versteckt ist. Ihr fehlen die Freunde, ihr früherer Alltag. Anne notierte schon Monate nach dem Untertauchen: „Ich fühle mich in letzter Zeit immer verlassener. Um mich herum ist eine große Leere.“ Ihr wird klar, „dass Vater mir doch nicht meine frühere Welt ersetzen kann“.

Seelenqualen im Versteck

Heute hören wir, wie die Schlangen in Läden, das Slalom-Laufen beim Jogging, das Abstandhalten im Park oder das Verbot der Parkbank den Leuten auf die Seele schlagen. Die Hinterhäusler hätten derlei Beschwernisse locker hingenommen. Als ich als junger DDR-Flüchtling in einem Zimmer mit zwanzig Menschen in Stockbetten im Lager in Berlin lebte, hatte ich weniger Freiheiten als im so genannten Lockdown. Abends weggehen war verboten. Wer zu den Mahlzeiten nicht antrat, blieb hungrig, denn den Flüchtlingen fehlte das Geld für die Bratwurst vom Kiosk. Den Reinigungsdienst zu verweigern ging auch nicht, jeder Bewohner, ob Teenager oder Erwachsener war in der Pflicht. Licht aus um zehn, ob man müde war oder nicht.

Anne, die im Hinterhaus 14 und dann noch 15 Jahre alt wurde hat zuweilen geweint, weil ihr alles zu viel wurde. Alle Versteckten hatten ihre Krisen, aber über Seelenqualen wurde nicht geredet. Ihre Ängste und Phantasien vertraute Anne ihrem Tagebuch an. „Wie ich mich fühle, könnte ich dir nicht sagen. Den einen Augenblick sehne ich mich nach Ruhe, den anderen wieder nach Fröhlichkeit. Lachen sind wir hier nicht mehr gewöhnt so richtig lachen, bis man nicht mehr kann.“

Zwanzig Monate abgetaucht

Da war sie fast 20 Monate untergetaucht. Sie wäre zu gern zur Schule gegangen. Sie und ihre Schwester waren gute Schülerinnen gewesen, doch im Hinterhaus vergeht der jungen Anne je länger die Isolation dauert manchmal die Lust am Lernen. Doch nach großer Traurigkeit und einigem Nachdenken rafft sie sich auf, weil sie was werden will, wenn sie wieder draußen ist. „Ich muss arbeiten, um nicht dumm zu bleiben, um weiterzukommen, um Journalistin zu werden (…). Ich weiß, dass ich schreiben kann.“ Anders als die Heutigen konnten die Untergetauchten nicht nach sechs Wochen schreien: „Jetzt reicht’s!“

Eine Gemeinsamkeit gibt es aber doch. Heute lauschen wir zwanghaft den stündlich wechselnden Covid-Nachrichten. Jedermann mutiert zum Westentaschen-Virologen. Zwischen 1942 und1944 waren die Franks und ihre Leidensgenossen auf die BBC fixiert, um die erlösende Botschaft zu hören. Sie kannten die Namen der Luftlandedivisionen auswendig und verfolgten die Bewegungen an den Fronten, in Russland wie Afrika. Strategische und taktische Besserwissereien waren auch dem Hinterhaus nicht fremd. Die Augenzeugenberichte ihrer Helfer waren ihnen so wichtig wie die Lebensmittel, die sie herbeischafften.

Buch der Stunde

Das „Tagebuch der Anne Frank“ ist das Buch der Stunde. Die junge Verfasserin zeigt uns an ihrem Beispiel, wie man Isolation verarbeiten kann. Immerfort fragt sie sich, wer sie sei, was der Sinn des Lebens und was Glück sei. Dieser Teenie entwickelt sich zum Philosophen, Psychologen und Soziologen – mit scharfem Verstand und kluger Beobachtung. Den Kriegsverlauf analysierend, glänzt sie sogar als Strategie-Expertin. Das Kind ist in 22 Monaten Isolation zur Erwachsenen geworden – trotz Traurigkeit und Todesangst, aber mit viel Introspektion.

Gibt es eine gute Quarantäne? So wenigstens findet es Kirill Serebrennikow. Er muss es wissen. Er hat 18 Monate Hausarrest hinter sich, der nicht einmal aufgehoben wurde, als seine Mutter im Sterben lag. Seit über einem Jahr ist er draußen, darf aber Moskau und Russland nicht verlassen. Als Geschenk des Himmels soll man die Quarantäne begreifen. „Quarantäne ist Aufladen, Ausruhen, Entspannen. Nehmt das ernst. Nehmt euch selbst in die Pflicht. Habt aber auch Spaß, schaut Filme, hört Musik, entdeckt Neues!“

Ans Gute glauben

Auf den Perspektivwechsel kommt es an. Zu beklagen, dass es nicht ist wie sonst – es ist recht nutzlos. Selbst die Frauen, die angeblich die Verlierer der Krise seien, gewinnen, wie diese Friseurin: „Ich habe meine kleinste Tochter ganz neu kennengelernt, was die mir den lieben langen Tag erzählt, fantastisch und was meine 14-jährige Tochter diskutieren will, unerhört. Nein, die Krise muss ich nicht beklagen.“

Ein Ende wie Anne Franks steht uns nicht bevor. Auch droht kein Unterdrückungsstaat. Wir müssen das Beste aus einer unvermeidlichen Situation machen. Sommerferien auf Balkonien tun es da auch. Ob wir, wie die untergetauchte und verfolgte Tagebuchschreiberin, am Ende des Tages immer noch an „das innere Gute im Menschen glauben“, das wird man sehen. Den Hygiene-Demonstranten sollte man das Tagebuch in die Hand drücken, damit wenigstens manche den Blickwinkel ändern und lernen in welcher Freiheit sie leben.

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