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Die Berliner Schriftstellerin Ursula Krechel.

© Boris Roessler/dpa

Neuer Roman von Ursula Krechel: Gerupft bei lebendigem Leibe

Ursula Krechel erzählt in ihrem Roman „Geisterbahn“ von einer Sinti-Familie im Trier der NS- und Nachkriegszeit.

Anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1936 wurde auf den Berliner Rieselfeldern der „Zigeunerrastplatz Marzahn“ errichtet. Von 1934 an diente er der Erfassung und Verfolgung von Sinti und Roma, die mit dem Porajmos, wie die Roma den organisierten Völkermord nennen, endete. Sie waren die ersten Probanden, an denen das NS-Regime die Konzentrierung von „Artfremden“ in Lagern exerzierte und dabei an den Antiziganismus der Mehrheitsbevölkerung anknüpfte.

Ursula Krechel, die mit ihren beiden Großromanen „Shanghai fern von wo“ und „Landgericht“ den Verfolgten, Exilierten und Remigranten schon zwei würdige Denkmale gesetzt hat, stellt diese in mehrfacher Hinsicht zu Opfer gewordene Volksgruppe nun in den Mittelpunkt des dritten voluminösen Bandes ihres Großprojekts.

Hauptprotagonisten in „Geisterbahn“ – der Titel verweist sowohl auf das Fahrgeschäft als auch auf den grauenvollen historischen Hintergrund – sind die alte Römerstadt Trier, in der Krechel geboren ist, und die Sinti-Familie Dorn. Alfons, Lucie und ihre zehn Kinder haben sich in der tief katholischen Moselstadt niedergelassen und wollen dort und in der Umgebung Kinder mit ihrem Karussell beglücken.

Auf dem Kudamm geraten die Männer in eine Razzia

Ein ausgeprägter Familien- und Geschäftssinn garantieren zunächst bescheidenen Wohlstand. Doch die Polizei schreitet ein, wenn der Karussellbetrieb „die Anlieger angeblich beim Anhören einer Rede Hitlers stört“. 1936 unternimmt Alfons mit seinem Schwager Laurenz eine Reise nach Berlin, um vergeblich den gerade neu eingeführten Autoscooter zu erwerben. An „Zigeuner“ verkauft der Anbieter nicht. Auf dem Kudamm geraten die Männer in eine Razzia, sie werden zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ auf den Marzahner Rastplatz verschleppt. 600 Leute werden dort in einem ersten Ghetto zusammengepfercht.

Zurück nach Trier geflüchtet, ziehen sich dunkle Wolken über der Familie zusammen. Kathi, die älteste Tochter, wird zwangssterilisiert, und Lucies achtes Kind totgeboren, weil die Hebamme sich zu kommen weigert. Der Älteste, Josef, lernt das Bäckerhandwerk und taucht in Luxemburg unter. Er wird aufgegriffen und nach Buchenwald deportiert.

Erzählt wird dies aus der distanzierten Retrospektive Bernhard Blanks, eines in der Erzählzeit als Lehrer tätigen Nachkommens der Tätergeneration. Blanks Vater tritt im Roman nur in Versalien auf, autoritär und gewalttätig auch gegen die eigene Familie. Als Angehöriger der Schutzpolizei verfolgt er die Dorns schon früh. Er ist es, der Kathi die Unterschrift zur Sterilisation abpresst, später gehört er den Einsatztruppen im Osten an, in Berlin, Belzec und Lublin. „Ich habe MEINEN VATER gesehen, wie er sich selbst nicht sah, sich nicht sehen durfte“, schreibt der Sohn. Der erste Teil endet mit der Abschiebung der Dorns: Im Schatten des Kölner Doms geht es auf den Transport nach dem Osten.

Krechel zitiert wieder aus Akten und Selbstzeugnissen

Kontrastiert wird das Schicksal der Familie durch die Figur Franz Neumeisters, eines Aufsteigers aus dem Dorf: ehrgeizig, aber unbegabt für die entstehende „Volksgemeinschaft“. Der soziale Paternoster trägt ihn nach oben, bis ins Ministerium nach Berlin: „horizontal mit den vielen“, „vertikal allein“. Zunächst berät er Jugendliche bei der Berufswahl, ganz nach den Wünschen des Systems.

Mit Neumeister führt Krechel weitere Protagonisten ein. Wäre es möglich, dass Neumeister Aurelia Torgau begegnete, die wie ihr Bruder Willi Mitglied der KPD ist und im Auftrag der Partei Botschaften nach Luxemburg schmuggelt? Oder Grit Berghausen, der Hotelerbin, die es der Liebe wegen nach Trier verschlägt, wo sie im Krankenhaus arbeitet, während ihr namenloser Verlobter später „im Krieg bleibt“? Krechel schickt ihre Figuren immer wieder „zurück auf Null“.

Bei ihnen handelt es sich nicht im eigentlichen Sinne um Figuren, denn die Autorin schöpft wie in den ersten beiden Romanen ihr Personal aus Polizei- und Verwaltungsakten, Entnazifizierungsverfahren und Selbstzeugnissen, aus denen sie ausgiebig zitiert. Es sind wie sie einmal erklärt, „gefundene Figuren“, die sie mit Emotionalität und psychologischer Tiefe anreichert. Den historischen Hintergrund verbürgt das Personal, Adenauer, der päpstliche Nuntius Pacelli, oder Gustav Simon, Gauleiter in Luxemburg.

Die Römerbrücke und die Konstantinsäule in Trier auf einer Postkarte von 1939.
Die Römerbrücke und die Konstantinsäule in Trier auf einer Postkarte von 1939.

© imago/Arkivi

Die Dorns kehren, nachdem sie fünf ihrer Kinder im KZ verloren und ein weiteres, Ignaz, dort bekommen haben, ins besetzte Trier zurück. Willi Torgau wird Mitglied eines Entnazifizierungsausschusses, die Auschwitz-Überlebende Aurelia macht Erfahrung mit dem realen Sozialismus im Berliner Ostsektor, und die Dorns stehen wieder am sozialen Rand. Die Stadtverwaltung speist die KZ-Rückkehrer mit Moselwein ab. In Krechels Geburtsjahr 1947 werden auch die Nachkommen geboren, der Erzähler Bernhard, Neumeisters Tochter Cäcilia, Annchen Dorn, die zweite, nach der Tante benannte, Aurelia und Grits uneheliche Tochter Iris.

Deren Kindheit in den Fünfzigern, das Verhältnis zwischen den Kindern aus der Ober- und Unterstadt, ist spürbar imprägniert von Krechels eigenen Erfahrungen. Daher kommt es wohl, dass „Kleine Körper“ der farbigste und detailreichste Teil des Romans ist. Die unmittelbare Nachkriegsgeneration ist geprägt von den Traumatisierungen und Verdrängungen der Eltern und älteren Geschwistern, auch vom Kampf um Wiedergutmachung.

Großartige Bilder, die man nicht vergisst

Krechel ist sich der „Macht des Erzählens“ hier besonders bewusst, immer wieder mischt sich der Erzähler mit poetologischen Überlegungen ein: „Bloß nicht naiv werden, Bernhard, bloß keinen kindlichen Blick.“ Sie doziert über die scheinbare Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist. Und trotz der biografischen Erdung, behält Krechel ihren kühlen Ton bei, immer wieder die Sprachebenen wechselnd zwischen Verlautbarung, Bericht, Legende und Erlebnisraum. Es gibt Szenen, die man nicht vergisst, etwa die von den Gänsen im Zuchthaus, die von den Häftlingen bei lebendigem Leibe gerupft werden müssen oder den Kinderspielen im KZ. Oft bricht die Lyrikerin Krechel durch mit großartigen Bildern, aber auch die Satirikerin: Demokratie ist „ein Kindertraum, den Erwachsene wahrmachen“: „Alle dürfen mitmachen, alle dürfen Karussell fahren, aber es kostet.“

Der letzte und schwächste Teil verfolgt die Schicksale der Heranwachsenden im Wirtschaftswunderland bis in die Sechziger. Für Kathi etwa wird die Kinderlosigkeit zum Trauma, Aurelia zerbricht an Schuldgefühlen. Wie ist ein gelingendes Leben möglich, im Schlagschatten der Vergangenheit, im Weinbauland, das alles unter falscher Fröhlichkeit begräbt?

Ursula Krechel hat das grandiose Tableau einer Stadt und einer Gesellschaft entworfen, deren Versehrungen so tief wurzeln wie die Weinstöcke an den Moselhängen. Man sollte von daher nicht in der Illusion leben, dass die Vergangenheit so tief begraben ist wie die alten Römer in Augusta Treverorum. 800 dieser Römergräber kamen erst kürzlich ans Tageslicht.

Ursula Krechel: Geisterbahn. Roman. Jung und Jung, Salzburg 2018. 650 S., 32 €. Lesung: 6.9., 20 Uhr, Akademie der Künste, Pariser Platz

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