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Druck von oben auf Jule Böwe, Bernardo Arias Porras, Ingo Günther, Florian Anderer, Carol Schuler, Bastian Reiber, Axel Wandtke und Ruth Rosenfeld (v.l.).

© Thomas Aurin

"Null" an der Berliner Schaubühne: Scheitern als Spaß

Baumeln, Taumeln, Fallen: Herbert Fritsch zelebriert in „Null“ an der Berliner Schaubühne die Kunst des Misslingens.

„One, two, three, four“, zählt Ruth Rosenfeld mit ehrgeizigem Kopfnicken den Takt ein und versucht, die Kollegen zu popgymnastischen Schrittfolgen zu bewegen. Allein, der choreografische Funke will nicht überspringen. Die restlichen Ensemblemitglieder stehen ratlos auf der Bühne herum und schauen schwer irritiert aus den bunten Klamotten, die Bettina Helmi ihnen auf die Artistenkörper geschneidert hat. Wobei Jule Böwe zweifellos einen Sonderpreis verdient für ihren quasi abendfüllend festgetackerten „Hä?“-Gesichtsausdruck.

Nein, befindet der in zielloser Bewegungswilligkeit auf der Bühne herumstochernde Trupp unisono: Diese vierschrittige Schmalspur-Choreografie sieht nicht wirklich nach dem konzentrierten „kleinen Format“ aus, das die Kollegin Rosenfeld da so großspurig angekündigt hatte. Sondern eher „ein bisschen nach Tanztee“, wie Bastian Reiber wiederholt in die Runde kräht.

Das tut er freilich nicht ungestraft. Denn wenn die Schauspieler kurz darauf an den vom Schnürboden herabgesenkten Seilen hängen, um sich zu buchstäblichen Luftnummern aufzuschwingen, driftet Reiber – während die Kollegen sich ehrenwert an Beinverrenkungen mit Maikäfer-Charme versuchen – notorisch in Richtung Seitenbühne ab. Und verfängt sich in einer hochnotkomischen Steigerungsdramaturgie jedes Mal ein bisschen folgenschwerer in diesem nichtsnutzigen Ikea-Vorhang, der da so überflüssiger- wie unverschämterweise seine Flugbahn kreuzt.

Jeder kickt seinen Nächsten knuffig in Seite, Schenkel oder Hintern

Kurzum: Misslingen ist gar kein Ausdruck für das, was hier am laufenden Band virtuos vorgeführt wird. Die einzige Übung, die praktisch tadellos funktioniert (und aus lauter Gelingensfreude gleich mehrfach von links nach rechts und wieder zurück durchexerziert wird) ist das Hinfallen, namentlich in einer Art Schubs-Domino: Jeder kickt seinen Nächsten so knuffig in Seite, Schenkel oder Hintern, dass der in formvollendeter Hoffnungslosigkeit umsinkt und seinerseits kickend den jeweiligen Nachbarn mitreißt.

Kein Wunder, dass die versammelten Verbiegungsbühnenkünstler ausgerechnet in dieser bodennahen Verfehlungsdisziplin zur persönlichen Bestform auflaufen. Schließlich haben wir es bei Herbert Fritschs neuer Arbeit an der Berliner Schaubühne mit einer bewusst ausgeklügelten Null-Nummer zu tun, die ihr Programm unmissverständlich im Titel trägt. „Null“ ist der zweite Abend nach dem durch Frank Castorfs Intendanz-Ende an der Volksbühne bedingten Umzug der Fritsch-Truppe an den Lehniner Platz. Und es ist, nach dem von Horváth-Motiven inspirierten „Zeppelin“ zum Spielzeitauftakt im Herbst, der deutlich konsequentere.

Eine unfähige Blaskapelle scheitert an der Tonproduktion

„Null“ versucht, textgrundlagenlos, an Fritschs grandiose Dada-Messen in der Volksbühne anzuschließen; an den legendären Ein-Vokabel-Abend „Murmel Murmel“ oder an Fritschs Abschiedsmeisterwerk „Pfusch“ am Rosa-Luxemburg- Platz, das zu Recht zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Während die Akteure dort so gegenständlich wie metaphorisch in die (übermenschengroße) Röhre glotzten und das Publikum aufs Brillanteste mit nicht enden wollenden Tasteninstrumentenschlägen traktierten, scheitert diesmal zum Beispiel eine leistungswillige, aber leider nicht sonderlich fähige Blaskapelle hartnäckig an der Tonproduktion. Und eine komplette clowneske Verklemmungs-Artisten-Riege dilettiert mit Grandezza an einer Art Poledancestange – mit Punktsieg für Carol Schuler, die an diesem herausfordernden Sportgerät aufzutrumpfen versteht wie das sterbende Flügeltier aus Tschaikowskis „Schwanensee“.

Aber auch wenn das alles nicht an die „Pfusch“-Meisterschaft heranreicht, durchgängig gefälliger wirkt und an einigen Stellen sogar ins Putzige abzudriften droht, geht es an diesem Abend natürlich um weit mehr als um schmerzfreien Misslingensslapstick. Ins Seriöse gewendet, haben wir es mit nichts Geringerem zu tun als einer Art Standortbestimmung im Fritsch-Œuvre, einer theatralen Stunde Null sozusagen. „Was genau bedeutet das, bei Null zu beginnen?“ Das Interesse an diesem Zustand, sagt der Regisseur, der nach eigenem Bekunden bereits als junger Schauspieler „eine Null-Show“ auf die Bretter gehauen hat, im Interview mit der Dramaturgin Bettina Ehrlich im Programmheft, habe ihn zu dieser Null-Reflexion getrieben.

Bedrohlich schnappt eine gigantische Roboterhand über dem Szenario

Die Null „markiert zwar ein Nichts, ist aber nicht nichts“, wird Fritsch angemessen tiefenphilosophisch. Sie sei, im Gegenteil, „sogar eine ganze Menge, weil sie auf etwas verweist, das zwar nicht da ist, aber da sein könnte.“

Logisch, dass der Regisseur diesen Abwesenheitsraum mit Spuren, Utensilien und Zeichen versehen hat, die zwar nirgends hinführen, das aber durchaus illustrativ. Und dass – auch dies eine der „unendlich vielen“ denkbaren „Möglichkeiten“, auf die so eine Null „verweist“ – nach dreißig Minuten einfach erst mal Pause ist. Ein Trupp Umbautechniker installiert jetzt eine gigantische Roboterhand mit bedrohlich grobmotorisch auf- und zuschnappenden Fingergliedern über dem Szenario, unter der die Schauspieler im zweiten Teil des Abends grandios klein wirken. Fremd- bis ferngesteuert von einer irrationalen Maschinenpranke: ein großartiges Bild.

Musiker Ingo Günther schwingt mit Grandezza den Taktstock

Überhaupt wirkt das Misslingensballett aus den ersten dreißig Minuten, das sein Scheitern permanent so redselig reflektiert, rückblickend eher wie eine Aufwärmübung. Denn jetzt befährt Axel Wandtke die Bühne etwa mit einem Gabelstapler, an dessen Front sich wiederum Florian Anderer regungslos postiert wie ein oberflächenversiegelter Wachsfigurenabklatsch von Barbies Ken. Bernardo Arias Porras löst beim anschließenden Kletterslapstick in der Fahrerkabine absichtsvoll-absichtslos Maschinensignale aus. Der Musiker Ingo Günther schwingt mit Grandezza den Taktstock, während das Ensemble daran scheitert, den sangesfreudigen Kehlen die entsprechenden Töne zu entlocken. Und Werner Eng dilettiert zwar in der Blasinstrumentenkunde keinen Deut weniger als seine Kollegen, zwinkert aber beim wiederholten Auf- und Abfahren zwischen Bühne und Unterbühne mit Abstand am vertrauensseligsten ins Publikum: lauter Übungen im nicht nichtig sein wollenden Nichts.

Der Abend hat zweifellos seine Längen. Und Momente, in denen die Deckungsgleichheit zwischen dem programmatischen und dem faktischen Nichts eher unfreiwillig wirkt. Aber die letzte Viertelstunde ist dann wieder einmalig: Die Akteure sind nach und nach von der Bühne verschwunden, übrig bleibt ein düsteres Pas-de-deux von Gabelstapler und Roboterhand. Grausig, traurig, schön. Und die wohl spektakulärsten Bühnenminuten der bisherigen Berliner Saison.

Nächste Vorstellungen am 26.-28. und 30. März, jeweils 20.30 Uhr

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