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Ein Ausriss aus dem Tagesspiegel vom 29. November 1945, Teil der Illustration zur Nürnberg-Reportage von Peter de Mendelssohn.

© Archiv

Peter de Mendelssohn 1945 im Tagesspiegel: Nürnberg

Unter dieser schlichten, aber aussagekräftigen Überschrift erschien 1945 im Tagesspiegel eine Reportage von Peter de Mendelssohn über die zerstörte Stadt und den Kriegsverbrecher-Prozess. Zum Einstieg wird erklärt, dass Mendelssohn zuvor an der Gründung des Tagesspiegels beteiligt war.

Peter de Mendelssohn war bis vor kurzem Leiter der Presse-Abteilung der amerikanischen Informations-Kontrollstelle in Berlin und als solcher maßgebend an den Vorbereitungen der Lizenzerteilung für den „Tagesspiegel" beteiligt. Er ist gegenwärtig als Sonderberichterstatter der New Yorker „Nation" und des Londoner „New Statesman" in Nürnberg.

Nürnberg, den 25. November - In dieser von Winterdunst und dünn rieselndem Regen umhüllten Stadt gibt es zwei Nürnbergs — eines, das die Welt schon fast vergessen hat, das aber für seine Bewohner, die es betäubten Sinnes und unverstehenden Auges anstarren, nackte, fürchterliche Wirklichkeit ist; und ein anderes, auf das das Scheinwerferlicht der ganzen Welt gerichtet ist, und das den Nürnbergern selbst wenig oder gar nichts zu bedeuten scheint. Es liegt mehr als rein äußerliche Bedeutung in der Tatsache, daß die alte, mauerumfaßte Stadt, die alliierte Luftangriffe zu einem unbeschreiblichen Trümmerhaufen gemacht haben, und das riesige, düstere, labyrinthartige Gerichtsgebäude am Rande der Stadt, wo das alliierte Militärtribunal unter den majestätischen Flaggen vier siegreicher Mächte in diesen Tagen dem Aufmarsch überwältigenden, verdammenden Beweismaterials gegen zwanzig Naziverbrecher beiwohnt, mehrere Kilometer voneinander entfernt sind. Dem Besucher beider Stätten kommen sie wie eine Entfernung von Jahren, wie eine Entfernung von Welten und Zeitaltern vor, und es fällt schwer, zwischen beiden den Zusammenhang herzustellen.

In der Tat, wenn man von der Pressegalerie des Gerichtssaals auf Julius Streicher hinabblickt — auf einen kleinen, untersetzten, kahlköpfigen Mann mit eckig vorstehenden Kinnbacken, der einem Grünkramhändler aus der Vorstadt gleicht, wie er dahockt zwischen Frick, der nun wahrhaftig einem entlassenen Schullehrer ähnlich sieht, und Funk, der einen an einen in mißliche Verhältnisse geratenen Reisevertreter gemahnt — dann kommt es einen hart an, sich davon zu überzeugen, daß dies wirklich der Mann ist, der noch bis vor kurzem diese Stadt mit Reitpeitsche und Revolver im Gürtel beherrschte und ihre alteingesessene zahlreiche jüdische Gemeinde auf jammervolle ganze 110 Seelen reduzierte, die sich jetzt in der Obhut des freundlichen, paradox benamten Dr. Nürnberger befinden. Wieder und wieder muß man sich vor Augen halten, daß beide in derselben Welt bestehen, daß hier, Seite an Seite, Anfang und Ende einer und derselben Geschichte zu lesen sind. Die überfüllten Straßenbahnwagen, die die beiden Welten miteinander verbinden, rumpeln anscheinend ziellos und zwecklos durch ein seltsames, bedrückendes geschichtliches Vakuum hindurch.

Das alte Nürnberg ist tot. Gleich Pompeji liegt es in tiefem Schlaf, als sei es vor Jahrhunderten schon gestorben, als habe es seinem einstmaligen Glanz entsagt und ihn vergessen und erinnere sich nicht mehr oder wolle nicht länger mehr wissen, warum und wodurch es in Schutt und Asche sank. Ich habe — einstmals selbst ein Deutscher, im benachbarten München geboren, und von den zwanzig Männern im Nürnberger Gerichtssaal mit Mord und Totschlag in ein anderes Leben, eine neue Existenz und ein neues, tapferes, bescheidenes und hochherziges Vaterland jenseits des Kanals getrieben — nahezu alle großen zerstörten Städte Deutschlands gesehen und weiß, daß sie in gewissem Sinn alle gleich aussehen. Nürnberg aber ist die erste, die anders aussieht. Nürnberg, so wie ich es sah, da ich an einem kalten, von gelegentlichem glitzerndem Sonnenlicht durchstrahlten Sonntagmorgen durch seine verlassenen Ruinen wanderte, von den kleinen Pegnitzbrücken über den Marktplatz an St. Sebaldus und Frauenkirche vorbei hinauf zur Burg, dieses Nürnberg werde ich nie vergessen. Denn diese Stadt, die Geschichte atmete, während sie lebte, hat es auf geheimnisvolle Weise fertiggebracht, die Züge ihres historischen Antlitzes, in gelegentlichen, flüchtigen, blitzartigen Wunderaugenblicken selbst auf ihrem zerbrochenen, von Kraut und Grün schon überwucherten Grabmal zu bewahren.

Klingt derlei lästerlich, ketzerisch, herzlos und grausam? Es ist die Wahrheit, und ich, der ich als dreizehnjähriger Knabe in kurzen Hosen und leichtem Hemd, den Rucksack auf dem Rücken, im wehenden Sommerwind vor St. Sebaldus stand und auf die sonnbeschienenen Skulpturen an der Kirchwand hinaufsah (sie sind noch da, unberührt und geheimnisvoll wie je), ich darf es sagen: diese Stadt ist umwebt von einem Zauber, der beinah Schönheit ist, sie umschwebt eine seltsame zarte, gebrechliche, fast lächelnde Lieblichkeit. Das zerstörte Nürnberg ist nicht häßlich, fürchterlich; sein Tod spricht nicht vom Krieg. Vielmehr gleicht es einer mittelalterlichen, mauerumschlossenen Stadt, die ein unerklärliches, gigantisches Unheil überfallen hat — ein alles versehrendes Feuer, ein Erdbeben, eine Pest, eine erbarmungslose Gottesstrafe. Jetzt hat es seinen Frieden mit Gott und der Welt gemacht; unirdische, süße Heiterkeit liegt auf seinen schlafenden Ruinen, und schwer fällt es dem Wanderer, sich von ihrem Anblick loszureißen.

Gegen diesen Hintergrund gesehen (und gegen welchen anderen könnte man sie sehen?), gegen diesen Hintergrund maßloser und unermessener Agonie scheinen die zwanzig schäbigen Männer, die auf harten Holzbänken im Gerichtssaal den acht Gerechten des Tribunals gegenübersitzen, fehl am Platz. Ihre Statur reicht so ganz und gar nicht zu der gigantischen Bedeutung des Prozesses hinauf, dessen Gegenstand sie sind. Man kann sich nicht helfen, man würde lieber an dieser Stelle größere Männer sehen — größer in jedem Sinn — um sich für die Enormität des Unheils zu verantworten, dessen Beweise jetzt Stück um Stück in unbarmherziger Folge und Folgerichtigkeit dem Gericht vorgelegt werden. Diese da sind kleine Männer, sehr kleine und sehr böse Männer, und vielleicht ist es gerade ihre Kleinheit, die ihre Verschwörung gegen Deutschland, die Welt und die Menschheit zu der unerhörten Ruchlosigkeit macht, als die wir sie kennengelernt haben.

Hitler ist nicht unter ihnen. Was da sitzt, ist eine Iumpige, uninspirierte, zusammengewürfelte Gesellschaft zweitklassiger Typen. Das Licht, wenn es je in ihnen geschienen hat, ist gewißlich und sichtbarlich ausgegangen. Was war dieses Licht? War es Hitler? Irgend etwas hat doch dieses Häuflein zusammengehalten. Was dieser Prozeß wäre, wenn Hitler unter ihnen säße, ist schwer vorzustellen. Aber macht das Tribunal, indem es diese zwanzig seiner engsten Freunde und Verbündeten zur Rechenschaft zieht, auch ihm den Prozeß? Sein Name wird oft genug genannt, dennoch scheint er weit von allem entfernt. Hat es ihn überhaupt jemals gegeben? Erinnern sich die Zwanzig an ihren großen Chef, der In seiner Reichskanzlei, von Petroleum übergossen, brennend zur Hölle fuhr? Vermutlich erinnern sie sich, denn ohne ihn wäre keiner von ihnen dahin gekommen, wo er war — und wo er jetzt ist. Dennoch hat man das Gefühl, als mache das Tribunal der ausgebrannten Lampe und nicht dem Licht den Prozeß, der leeren Geschoßhülse und nicht dem Sprengstoff, der sie abfeuerte. Allerdings mag der Verlauf des Prozesses diesen Eindruck korrigieren, er mag durchaus schließlich und endgültig Hitler an den Platz stellen, an den er gehört, und ein für alle Mal klarstellen, ob er wirklich das Erzeugnis einer Politik war oder ihr Erzeuger.

[Dieser Text von Peter de Mendelssohn (geboren am 1. Juni 1908 in München, gestorben am 10. August 1982 ebenda) erschien am 29. November 1945 im Tagesspiegel. Mehr von Tagesspiegel-Autoren der Vierziger- und Fünfzigerjahre wie den Zeitungsgründern Erik Reger, Walther Karsch und Edwin Redslob oder der Schriftstellerin und Publizistin Gabriele Tergit finden Sie auf unserer Themenseite. Archiv-Beiträge aus der Nachkriegszeit können Sie zudem bei Twitter lesen.]

Betrachtet man sie jetzt im harten, blendenden Licht der großen, von der Decke herabscheinenden Scheinwerferlampen, so findet man nicht einmal einen matten Widerschein seiner Dynamik auf den Gesichtern dieser grauen, müden Männer. Am ersten Tag, der die Verlesung der langen Anklageschrift brachte, nahmen sie die Sache offensichtlich auf die leichte Schulter und nicht allzu ernst. Da gab es erstaunlich oft Schwatzen, Lachen, spöttische Bemerkungen und hochnäsiges Dreinschauen. Am zweiten Tag, der mit der Zurückweisung eines absurden und impertinenten Antrags seitens der deutschen Verteidiger begann und mit Staatsanwalt Jacksons scharfem, unerbittlich logischem, hart dreinschlagendem Exposé endete, das mit meisterlicher Beherrschung vorgetragen wurde, wich der Spaß rasch aus den Gesichtern, und sie wurden lang und ernst.

Aber selbst in ihrer Kleinheit sind sie keine homogene Gruppe. So sitzt zum Beispiel Schacht offensichtlich ganz für sich selbst, hält demonstrativ Distanz von den anderen, stocksteif, verzwickten Gesichts in seiner Ecke, als wolle er kundgeben, er sei nur aus Irrtum hier, und wenn das Gericht das nicht merke, um so schlimmer für das Gericht. Papen und Neurath wiederum, weißhaarig und gebräunt beide, sehen sich offenbar als die einzigen „Herren" in dieser Gesellschaft; der armselige, mit gesträubtem Haarschopf dahockende Verräter Seyß-Inquart ist zu ihrem auserwählten Zirkel nicht zugelassen, schäbiger Vorstadtanwalt, der er war und ist. Dönitz und Raeder, die beiden Admirale, gleichen zwei entlassenen Straßenbahnschaffnern, die auf ihre Arbeitslosenunterstützung warten. Ist es wirklich nur die schneidige Uniform, die den ganzen Unterschied macht? Diese beiden Landstreicher sehen nicht so aus, als hätten sie auch nur die geringste Ahnung von militärischen Angelegenheiten oder interessierten sich für sie.

Ribbentrop, Heß und Göring sitzen zusammen und gehören zusammen. Sowohl Göring wie Ribbentrop nehmen freundliches, leicht mitleidiges Interesse an ihrem armen, abgehärmten, hohläugigen einstmaligen Führer-Stellvertreter, der fast die ganze Zelt steif zurückgelehnt sitzt, mit auf der Brust verschränkten Armen, wie man sich an ihn erinnert — in der ersten Reihe der großen Partei-Kundgebungen. Jetzt blickt er drein mit leerem, einsamem, gottverlassenem Blick. Hat er nicht immer so dreingeblickt? Der blitzende Ribbentrop ist alt geworden über seinen Missetaten, er sieht gebrechlich aus, mit dünnem, grauem Haar, klapprigem, gebücktem Gang, brüchig, ausgebrannt. Und doch ist er noch immer der alte hirnlose Snob. Selbst hier muß er mit einem fahlen, abgeschminkten Lächeln unbedingt englisch auf den vor ihm stehenden amerikanischen Posten einreden. Der Posten allerdings, ein junger, dunkelhaariger Bursche, antwortet ihm unbekümmert, korrekt in reinem Frankfurterisch.

Göring jedoch, in seiner bizarren hellgrauen Uniform mit den blitzenden Messingknöpfen, die wie der Phantasierock eines Kinoportiers aussieht, ist der Star der Vorstellung. Er hat den Star-Platz in der vordersten Ecke der vordersten Reihe, von wo aus er von allen Seiten klar sichtbar ist, außer wenn der amerikanische Posten sich direkt vor ihm aufpflanzt, wie er es zuweilen tut, und ihm geradeswegs staunend ins Gesicht starrt, was Göring freilich nicht im mindesten stört, denn er starrt ebenso unbekümmert und ebenso interessiert zurück auf des amerikanischen Soldaten Uniform. Göring ist gefaßt, gesammelt, seiner selbst sicher; er hat sich in der Hand. Er gibt sich leicht, unbekümmert, als sei er im Gerichtssaal zuhaus, ist niemals spöttisch oder ironisch wie Frank, der bei weitem der übelste und widerwärtigste der Zwanzig ist. Göring nimmt offensichtlich die ganze Sache ernst und folgt der Verhandlung genau und aufmerksam. Der Prozeß ist gewiß für ihn keine günstige Sache. Aber er ist immerhin eine Sache, ein Sache, mit der man sich befassen muß, bei der man sehen muß, was herauskommt, und er scheint entschlossen, mittels gut aufgesetzten, erwachsenen, zivilen Benehmens und nicht zu dick aufgetragener Jovialität zu Sehen, was er herausschlagen kann. Präsident Lawrences scharfe Zurückweisung am zweiten Tag, als er versuchte, eine vorbereitete schriftliche Erklärung vorzulesen, anstatt sich, wie vorgeschrieben, für schuldig oder unschuldig zu erklären, irritierte ihn nicht, noch entmutigte sie ihn. Wenn er eine Chance bekommt, wird er es wieder versuchen. Aber den brüllenden Narren der Reichstagsbrand-Verhandlung wird er nicht ein zweites Mal spielen. Das hat er gelernt.

Im sinkenden Abend, da man zurückwandert zu der toten, schlafenden kleinen Stadt im fahlen Mondlicht, fällt es einem erneut schwer, sich die Wirklichkeit des ganzen Vorgangs zu bestätigen, Dennoch ist es wahr, wirklich wahr und wirklich. Der Alptraum ist vergangen, es ist vorüber. Zwanzig kleine böse Häufchen Elend, die nichts bedeuten und niemand mehr erschrecken, sitzen auf der harten Bank und lesen die letzte Fortsetzung einer Schauergeschichte, die zwölf Jahre zu lang gelaufen ist. Die Welt liest mit ihnen. Ob sie es verstehen oder nicht, darauf kommt es kaum mehr an. Die Welt versteht, beißt die Lippen zusammen; und zerdrückt mannhaft eine Träne um ihre Toten.

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