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Fang mich doch! Im Walt-Disney-Film von 1953 foppt ein lausbubenhafter Peter Pan seinen Lieblingsfeind, den teuflischen Piratenkapitän Hook.

© dpa/pa

Peter Pan in Berlin: Letzte Ausflucht Neverland

Popstar der Kinderzimmer, Gott ewiger Jugend: Im Berliner Ensemble spinnt Robert Wilson den Mythos Peter Pan weiter.

Alle Kinder werden groß – nur eines nicht: Bob Wilson. Nein, der berühmte Anfangssatz „All children, except one, grow up“ ist natürlich auf einen anderen gemünzt, auf Peter Pan. Den Popstar unter den Romanhelden in britischen und amerikanischen Kinderzimmern, den Gott der ewigen Jugend, den der schottische Schriftsteller James Matthew Barrie erschuf. Regisseur Robert Wilson, dessen Inszenierungen in Bilderwelten und Klangdesign so viel Affinität zur Popkultur aufweisen, dass er in Deutschland schon Jahrzehnte mit dem Titel „Theatermagier“ leben muss, ist dem Helden seiner neuen Produktion verblüffend ähnlich.

Er glaubt an Feen. An rote, gelbe, blaue, grüne, sanfte und schreiende Feen, wie er selber sagt. „Natürlich tue ich das, sonst könnte ich diese Arbeit gar nicht machen!“ Wilson amüsiert sich. Eben noch hockte ein müder älterer Herr im Produktionsbüro auf dem Hof des Berliner Ensembles über den Plänen für Bühnenbild und Lichtdesign. Nun fällt mit jeder Sekunde Gelächter eines seiner 72 Lebensjahre von ihm ab. Der Zauber, der im Roman als kindlich-naive Bejahung der Schicksalsfrage „Do you believe in fairies?“ eine halb tote Elfe wiederbelebt, verfängt auch bei alten, erfolgsverwöhnten Theaterleuten.

Wilson ist Stammgast am Berliner Ensemble. Seit den Siebzigern inszeniert der in New York lebende Texaner regelmäßig in Berlin. Zuletzt war vor zwei Jahren seine „Lulu“ mit Musik von Lou Reed am Schiffbauerdamm zu sehen. Jetzt hat am Mittwoch „Peter Pan“ in der deutschen Übersetzung von Erich Kästner mit der Musik von Coco Rosie Premiere.

Sicher habe er als kleiner Junge die 1904 als Bühnenstück in London uraufgeführte und 1911 als Roman „Peter und Wendy“ erschienene spätviktorianische Geschichte gelesen, erzählt er. Das hat jedes Kind im englischsprachigen Raum. Richtig Eindruck hat ihm der mythische Wunderknabe, dessen Name auf den leichtlebigen, ebenfalls eine Flöte blasenden griechischen Hirtengott Pan verweist, jedoch erst als Teenager gemacht.

Da war er Assistent beim großen Jerome Robbins, der „Peter Pan“ 1954 erstmals am Broadway inszeniert und später mehrfach wiederaufgenommen hat. Mit einer Neuauflage dieses munteren Musicals hat Robert Wilsons Stück ebenso wenig was zu tun wie mit dem wonnigen Walt-Disney-Klassiker „Peter Pan“ von 1953. Einem kunterbunten Zeichentrickfilm, in dem der Titelheld aussieht wie ein fliegender Robin Hood und die Fee Tinkerbell wie eine Barbiepuppe mit Flügeln. Auch die Indianer und Piraten auf Nimmerland sehen allesamt recht knuffig aus. Von der braven Wendy und ihren beiden Brüdern, die der präpubertäre Verführer Peter Pan mit dem Versprechen von Freiheit und Abenteuer aus ihrem heimischen Kinderzimmer entführt, mal ganz abgesehen.

Eifersüchtige Fee. Tinkerbell ist Peter Pans Gefährtin, sie schwirrt immer um den Jungen herum.
Eifersüchtige Fee. Tinkerbell ist Peter Pans Gefährtin, sie schwirrt immer um den Jungen herum.

© dpa/pa

„Mich interessiert ein anderer Peter Pan“, sagt Robert Wilson, „diese eigenartige, grausame Geschichte der Jahrhundertwende mit ihren dunklen Facetten“. Ähnlich wie in Lewis Carrolls 1865 erschienenem abgründigen Kinderbuch „Alice im Wunderland“, das ebenfalls für die Entdeckung der Kindheit im viktorianischen Zeitalter steht. Wilsons Hauptdarsteller Sabin Tambrea, jüngst als schöner Ludwig II. im Kino zu sehen und nominiert für den deutschen Filmpreis, trägt also weder grünes Wams noch Hütchen? Wilson schüttelt den Kopf. „Nein, schwarze Lederjacke.“ Klar, das ist düster, aber auch ziemlich Achtziger.

Doch wer weiß, ob Wilson es nicht hält wie Peter Pan und das einfach nur so erzählt. Der von der Mutter vergessene und deswegen Mütter hassende Junge, der mit seinen aus Kinderwagen gerollten, also verlorenen Jungs als Todfeind des teuflischen Kapitäns Hook auf Neverland lebt. Diesem Eiland der Fabelwesen und blutigen Massaker, wo morgen keiner mehr weiß, was er gestern gesagt hat und der Glaube die Wirklichkeit schafft.

„If you can dream it, you can do it“ – das Credo von Walt Disney, einem der erfolgreichsen Zauberer der Unterhaltungsindustrie, ist gewissermaßen das Prinzip Neverland. Im Guten wie im Schlechten. Es lässt Kinder vor dem drohenden Unschulds- und Freiheitsverlust durchs Erwachsenwerden aus dem Fenster zu einer sagenhafen Zuflucht fliegen. Es lässt sie lustvoll herrschen und töten. Es nimmt einen hühnerbrüstigen Egomanen, der immer Junge bleiben will und macht daraus einen romantischen Helden, der den todessehnsüchtigen Satz sagt: „Zu sterben wird ein schrecklich großes Abenteuer sein.“ Der Gott der Jugend, er will Spaß, selbst um den höchsten Preis.

Steven Spielberg hat diesen Schlüsselsatz 1991 in seiner üppigen Ausstattungsoper „Hook“ positiv gedreht und lässt den erwachsenen Peter Pan Robin Williams am Ende des Kinofilms sagen: „Zu leben wird ein schrecklich großes Abenteuer sein!“ Und zwar erst, nachdem der seine Kinder notorisch ignorierende Geschäftsmann auf Neverland endlich sein inneres Kind wiedergefunden hat.

Junger Wilder. Horst Buchholz spielt 1953 in Berlin den Peter Pan am Schiller-Theater.
Junger Wilder. Horst Buchholz spielt 1953 in Berlin den Peter Pan am Schiller-Theater.

© Ullstein

James Matthew Barrie, dem Schöpfer von Peter Pan, ist das anscheinend nie verloren gegangen. Der nur 1,50 Meter große, mit Kindern sehr viel talentierter als mit Frauen Umgang pflegende Bestsellerautor – was unter Zeitgenossen allerlei Gerüchte erregte – soll noch im hohen Alter mit dem Sohn seiner Sekretärin Peter Pan und Kapitän Hook gespielt haben. Zu der Geschichte hat ihn eine fünfköpfige Brüderschar inspiriert, die er beim Ausführen seines im Buch als „Nana“ verewigten Bernhardiners in Kensington Gardens kennenlernte. Marc Forster hat das 2004 nacherzählt: Sein Film „Finding Neverland“ mit Johnny Depp und Kate Winslet in den Hauptrollen schwelgt in süßem Sentiment. Er spinnt den Peter-Pan-Mythos weiter, indem die an Lungenkrebs dahinscheidende Mutter der Jungen, die Barrie tatsächlich nach dem tragisch frühen Tod der Eltern adoptierte, in ein traumschönes Neverland eingeht. Nimmerland als Erlösung, als Elysium.

Um so viel Hehres in Peter Pans ruppiger Welt zu entdecken, braucht es schon eine gute Prise Feenstaub. Wohingegen der sexuelle Subtext im Roman wie auch in der vorläufig letzten Kinoadaption von J. P. Hogan überdeutlich ist. Ist ja kein Zufall, dass Wendy Peter immer küssen, aber Peter von ihr nur Geschichten hören und den Frühjahrsputz erledigt haben möchte. Sex gehört nicht nach Neverland. Peters Kraft liegt in der Unschuld, auch wenn er unter Tinkerbells eifersüchtigem Blick oft nur einen Feenflügelschlag davon entfernt ist, sie zu verlieren. „Ich will niemals ein Mann werden“, sagt er. Da wählt der Trotzkopf nach der Rückkehr der anderen Kinder in die Elternwelt lieber die Freiheit ewiger Isolation. Der amerikanische Familientherapeut Dan Kiley hat aus diesem männlichen Nein in den Achtzigern gar ein ganzes Peter-Pan-Syndrom abgeleitet und mit dem gleichnamigen populärwissenschaftlichen Buch mächtig Auflage gemacht. Seitdem weiß jeder Mann, der Berufsjugendlicher ist, Bindungsängste hat und Verantwortung ablehnt, dass er Teil eines modernen Mythos ist.

Robert Wilson lächelt, wenn er das Stichwort hört. „Die Theorie finde ich sehr weise“, sagt er. Sie beeinflusse auch seine Inszenierung, wie genau, will er nicht sagen. Und ja, er kenne Männer mit Peter-Pan-Syndrom. Vielleicht sich selbst? „Nein! Obwohl – ich weiß nicht.“ Und dann beschreibt er, dass ein Schauspieler auf der Bühne als King Lear nur berührt, wenn man zugleich den kleinen Jungen im alten Mann sieht. Charles Baudelaire habe das so gesagt: „Genie ist die wiedergewonnene Kindheit“, und der Reiz des Peter Pan seien dessen viele Charaktere: Held, Verführer, Autist, Narziss.

Entsprechend umfänglich ist die Zahl der Theaterproduktionen – in Berlin etwa 1953 mit Horst Buchholz am Schiller-Theater, Musicals – etwa mit Ute Lemper 1984 am Theater des Westens, Romane, Filme, Comics, Fernsehserien oder Lieder von Paola bis Kate Bush, die sich um den Jungen drehen, der nicht älter werden will. Und damit um die Jugend, die Kindheit als Wert an sich. Zur Entstehungszeit ein Gegenbild zur Industrialisierung, heute zur Effizienzgesellschaft.

Deren Zumutungen hat sich ein anderer sagenumwobener Kindmann vor ein paar Jahren entzogen. Nein, nicht der fiktive Wachstumsverweigerer Oskar Matzerath, sondern Michael Jackson. Der zum tragischen Freak mutierte King of Pop, der vom eigenen Vater drangsaliert wurde und lieber mit Kindern als mit Frauen Umgang pflegte, was ihm einen Missbrauchsprozess einbrachte.

Seiner übergroßen Liebe zum Gott der Jugend, der zugleich die die Adoleszenz anbetende Popindustrie ist, hat Michael Jackson mit seiner Ranch Neverland ein Denkmal gebaut. Der Vergnügungspark im Disney-Stil ist ihm Zuflucht, Kinderland, ja Universum geworden, wie Margo Jefferson in ihrem klugen Essay über Jackson schreibt. Wenn er mit Künstlerfreunden wie Jane Fonda über seinen Wunsch sprach, selbst Peter Pan zu spielen, hat er am ganzen Leib gezittert, erzählt Jefferson. Und den britischen Theaterregisseur Trevor Nunn soll er einst gar auf Knien um diese Rolle angefleht haben. 2003, sechs Jahre vor seinem Tod, spricht er dann in stetig fortschreitendem Realitätsverlust und stetig fortschreitender Identifikation den legendären Interviewsatz „Ich bin Peter Pan!“. So kann es gehen, wenn sich einer im Neverland verfliegt, wie es selbstverliebten Popstars so häufig geschieht. Da wird aus dem Kind im Mann ein Monster. Und der Traum von der ewigen Jugend ist nichts als ein Fluch.

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