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Die Autorin Claire Messud, geboren 1966 in Greenwich, Connecticut.

© Ulf Andersen / Hoffmann und Campe

Roman von Claire Messud: Tiefe erste Schnitte

Das Ende einer Freundschaft als Reifeprozess: Claire Messuds Roman „Das brennende Mädchen“ kommt sprachlich sanft daher, entfaltet aber eine große Wucht.

Wann der Anfang vom Ende einer Beziehung einsetzt, lässt sich selten genau sagen. Aber es gibt den ersten Moment, in dem er sich nicht mehr leugnen lässt. Für Julia ist es der Halloween-Abend, an dem Cassie, anstatt mit ihr um die Häuser zu ziehen, auf einer Party mit Peter Oundle aus der achten Klasse herumknutscht. Dabei hatte Cassie behauptet, sie dürfe nicht raus. Aber das Schlimmste ist nicht, dass Cassie, wie Facebook-Fotos beweisen, sie angelogen hat, und auch nicht, dass sie sich Peter Oundle schnappen musste, in den Julia schon ewig verknallt ist. Es ist, dass Julia nicht versteht, warum ihre beste Freundin plötzlich nicht mehr ihre beste Freundin sein soll.

Die 1966 in Greenwich, Connecticut geborene, aus einer kanadisch-französischen Familie stammende Schriftstellerin und Literaturkritikerin Claire Messud erzählt in ihrem neuen Roman „Das brennende Mädchen“ vom Verlust der allerersten Freundschaft als Initiationsritual auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Ein Mensch, dem man sich lange Zeit sehr innig verbunden fühlte, entwickelt sich plötzlich wieder zu einem oder einer Unbekannten. Das kann man nicht erklären, das muss man einfach erleben, sprichwörtlich überleben.

Claire Messuds Roman kommt sprachlich sanft daher, entfaltet aber eine ziemlich große Wucht, nämlich indem er dazu auffordert, Freundschaft nicht geringer als Liebe zu schätzen. Gleich die erste Begegnung der beiden Protagonistinnen zum Beispiel. Es ist unerklärlich, was ausgerechnet Cassie und Julia zueinander hinzieht, was sie miteinander verbindet. Cassie steht da, und Julia lässt alle anderen stehen, um mit Cassie eine Sandburg zu bauen, und schon ist es geschehen. Von diesem Zeitpunkt an sind sie unzertrennlich. Spielen Pärchen und träumen davon, Superstars zu werden, schwimmen im Steinbruch und erkunden eine Ruine im Wald als Bühne für gemeinsam ausgedachte Abenteuer.

Kindliche Liebe hat sich in eifersüchtige Huldigung verwandelt

Mit dem Eintritt in die siebte Klasse verkompliziert sich ihre Freundschaft. Stundenpläne, soziale Rangordnungen und Erwachsenendiskurse bringen ihre Welt durcheinander, und kann es sein, dass eine Einserschülerin aus gutem Haus wie Julia auf Dauer mit der aufmüpfigen Tochter einer mäßig schlauen Krankenschwester befreundet ist? Julia, die den Roman aus der Perspektive der 17-Jährigen erzählt, begreift einfach nicht, warum Cassie sich ohne Vorwarnung von ihr abwendet. Und sie vermisst ihre schöne, furchtlose Cassie, durch die sie ihr Selbstbild entwerfen konnte, noch Jahre später. Sie bleibt ihr Maßstab.

Am Anfang eines neuen Schuljahrs betrachtet sie Cassie einmal aus der Ferne und beschreibt sie wie folgt: „Sie sah nicht mehr zerrauft aus, sie war schön geworden. Schön auf eine Art, die meinen raffinierten Haarschnitt als Schwindel entlarvte, denn bei Cassie gab es nichts zu verschönern, und nichts musste von ihrem Gesicht ablenken. (…) Ihre Haut sah aus wie mit Zimt bestreute Sahne.“ Ungestüme, kindliche Liebe hat sich in eifersüchtige Huldigung verwandelt.

Es ist der Schriftstellerin Claire Messud häufig bescheinigt worden, ein besonderes Talent dafür zu besitzen, in die adoleszente Gefühlswelt von Mädchen vorzudringen. Das Zentrum ihrer Arbeit bildet jedoch die Erkenntnis, dass es unmöglich ist zu leben, ohne Geschichten über sich und die Welt zu erfinden. Darum ging es in dem 2001 veröffentlichten Roman „Und dazwischen das Meer“, davon handelte Messuds Bestseller „Des Kaisers Kinder“ (2007) über drei New Yorker Thirtysomethings, die ihren Selbstverwirklichungsansprüchen nicht genügen, und darum geht es jetzt auch in ihrem inzwischen siebten Roman.

Zwischen Gefühl und dem, was Wirklichkeit sein soll

Obwohl der Plot im Wesentlichen Cassie, dem titelgebenden „brennenden Mädchen“, folgt, bleibt dieses Mädchen das schwarze Loch im Zentrum des Romans. Ist Cassie nicht einfach bloß ein pubertierender Problemfall? Ein aufmerksamkeitssüchtiges Mädchen, das zu viel trinkt, sich nachmittags in der Umkleidekabine der Jungs und nachts auf den Landstraßen herumtreibt? Hat sie den Tod ihres Vaters nie verwunden? Oder geht etwas Merkwürdiges mit ihrem neuen Stiefvater vor sich? Auch Julia weiß überhaupt nicht mehr, was sie wirklich glauben soll. Aber der Kopf ist das eine. Im Herzen fühlt Julia sich ihrer Kinderfreundin noch immer verbunden. „Mit jemandem, den man immer schon gekannt hat, ist es seltsamerweise so, dass man alles und nichts über ihn weiß“, versucht sie sich selbst ihr Verhältnis zu erklären. Also baut man und erzählt sich Geschichten, um die nicht geringe Kluft zwischen dem Gefühl und dem, was die Wirklichkeit sein soll, zu überbrücken.

Vielleicht ist es das, was Cassie irgendwann nicht mehr gelingt, mutmaßt Julia, als Cassie wiederholt verschwindet und sich zu suizidieren versucht. Vielleicht kam sie einfach nicht klar mit der Welt. Nur, was bedeutet das für Julia, die eigentlich glaubt, Cassies ganze Art in sich aufgesogen zu haben? Hat sie Cassie vielleicht nie gekannt, sondern nur das Bild, das sie sich von ihrer Freundin gemacht hat? Diese großartige Liebeserklärung von Claire Messud an die Freundschaft ist auch ein bisschen traurig, getreu der alten Weisheit „The first cut ist the deepest“. Nachdem dieser Schnitt sich aber nun mal nicht vermeiden lässt, ist er vielleicht sogar zu etwas gut. Von der Lektüre dieses Romans lässt sich das auf jeden Fall behaupten.

Claire Messud: Das brennende Mädchen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Monika Baark. Hoffmann & Campe, Hamburg 2018. 256 Seiten, 20 €.

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