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Kultur: Sakrament der Säfte

Ekel, Blut und Spiele: Berlin stellt mit dem Wiener Aktionisten Hermann Nitsch im Martin-Gropius-Bau und der Ausstellung „Into Me/Out of Me“ in den Kunst-Werken Extrempositionen der Kunst vor

Der Martin-Gropius-Bau, dieser Koloss an Ausstellungshaus, er fordert die große Geste, das Riesentheater. Hier haben Murkelkünstler keine Chance, das war beim Schiffbruch der dritten Berlin-Biennale in den Räumen dieses Neorenaissance-Palastes gleich zu spüren. Seitdem haben sich Fabrizio Plessi, Günther Uecker, selbst Rebecca Horn hier opernhaft ausgebreitet; mal mehr, mal weniger souverän versucht, die Säle in den Griff zu kriegen. Ihrer aller Meister aber ist nun gefunden: Hermann Nitsch, der beinahe siebzigjährige Aktionskünstler aus Wien.

Mit seiner Retrospektive – ausgerichtet von den Staatlichen Museen zu Berlin, finanziert vom Verein der Freunde der Neuen Nationalgalerie – verwandelt er schlagartig die Phalanx der Säle in einen einzigen Raum. Willkommen im Reich des Orgien-Mysterien-Theaters, willkommen auf Schloss Prinzendorf Nummer zwei. Während in Österreich die Inszenierungen live stattfinden, sind in Berlin nur die aus den Aktionen der letzten fünfzig Jahre destillierten Artefakte zu sehen. Bei der Ausstellungseröffnung war bereits so mancher Stoßseufzer zu hören: „Und das reicht!“

Weihrauchgeruch, Orgelbrausen oder der Oberton des Nitsch-Quintetto nehmen den Besucher bereits olfaktorisch und akustisch ein. Eigentlich ist das Orgien-Mysterien-Theater ein Ereignis für alle Sinne, doch im Ausstellungshaus gewinnt naturgemäß das Sichtbare die Oberhand. Und das ist schnell aufgezählt: mehrere hundert Quadratmeter Schüttbilder mit integrierten Malhemden, ein Bataillon Bahren, auf denen Operationsbesteck ausgebreitet liegt oder häufchenweise Papiertaschentücher angeordnet sind, ferner liturgisches Gerät und Gewänder. Dazu kommen wändeweise Fotodokumente, Ausstellungsplakate, Videos, ganze Vitrinen voller Bücher über Leben und Werk des Meisters.

Achtzehn Säle durchschreitet der Ausstellungsbesucher (Kuratorin Britta Schmitz sprach gestern unter anderem von ihrer Kilometerleistung in den Vorbereitungstagen) und spürt doch keine rechte Veränderung: weder bei sich selbst noch innerhalb des Werks. Ekstatische Teilnahme wird von ihm ohnehin nicht erwartet; schließlich handelt es sich um die Dokumentation des eigentlichen Werks, das sich erst innerhalb der Mysterienspiele vollzieht. Stutzig macht der Schematismus der Bilder, das Gleichbleibende der Elemente. Entwicklung gibt es so gut wie keine.

Nitsch perpetuiert letztlich die schon 1960 in seinem ersten Manifest formulierten Ideen. Immer geht es um Opfer-Kreuzigung, Meditation-Ekstase, Lust am Fleisch und Erlösung durch Schönheit. Dabei spielt kaum noch eine Rolle, wann welche Performance stattgefunden hat, in welcher Phase sich das orgiastische Geschehen – Ausweidung eines Schweineleibs, Prozessionszug der blutüberströmten Darsteller oder kollektives Trauben-Matschen – gerade befindet. Ähnlich verhält es sich mit den Gemälden, die stilistisch kaum auseinanderzuhalten sind.

So viel kann man ihnen allerdings attestieren: Sie besitzen eine Wucht, eine archaische Stärke, denen sich der Betrachter kaum entziehen kann – würde sich das Schauspiel auf der Leinwand nicht permanent wiederholen. Waren die Farbtöpfe bis in die achtziger Jahre ausschließlich rot, die der Künstler und seine Assistenten in immer größeren Dimensionen auf weiße Flächen kippten und dann mit dem Besen oder barfuß verteilten und bearbeiteten, so kamen seitdem mehr und mehr Violett, Grün, Gelb hinzu, bis im letzten Jahr ein regelrecht buntes Mammutwerk entstand, dem allerdings die Mitte fehlt, genauer: Herzblut.

Nitschs Werk kennt nur Freunde oder Feinde. In Österreich gilt er bis heute als Skandalkünstler, dessen 6-Tage-Spiel 1998 auf Schloss Prinzendorf nach Morddrohungen nur unter Polizeischutz stattfinden konnte. Gleichzeitig ist er Träger des österreichischen Staatspreises. Er selbst präsentiert sich bescheiden, streitet Allmachtsfantasien ab, sieht sich eher in der Rolle des Fußballtrainers und betont seine Liebe zu den Tieren, auch wenn er sie für seine Theater massenhaft zur Schlachtbank führt.

Doch darum geht es nicht. Nitsch steht am Anfang einer Bewegung, die das Leben und die Kunst im Zweifel mit Gewalt kurzzuschließen sucht. Von den Wiener Aktionisten ist er bis heute der Einzige, der sein Werk unverdrossen und nur mit minimalen Variationen fortführt. Bedeutung gewinnt er heute durch die Wiederkehr des Performativen in der zeitgenössischen Kunst, die Wiederbelebung seiner Ideen bei Jonathan Meese, John Bock, Christoph Schlingensief, aber auch Paul McCarthy, Mike Kelley und Matthew Barney. Insofern ist er doch einer der Großen der Kunst, dessen gleichbleibendes Werk voller Potenziale steckt. Wie jenes Geruchslabor mit seinen hunderten Phiolen, das in einem Ecksaal eingerichtet ist. Assistent Andi bügelt hier noch die letzten Leinentücher zur Bedeckung der hölzernen Bahren und antwortet auf die Frage, ob man eine entkorken darf, im breitesten Wienerisch: „Wenn’s dir traust.“

Hermann Nitsch, Orgien-Mysterien-Theater, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 2, bis 22. Januar, Katalog 25 Euro

Machen wir doch den Selbstversuch. Ekel im Museum, wo fängt er an? Christoph Schlingensiefs im Zeitraffer verwesender Hase aus der Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung: Fleisch, das, von Maden befallen, sich auflöst in feuchte Soße – eklig genug? Oder Otmar Bauer, der seine eigenen Fäkalien verspeist, auskotzt und wieder zu sich nimmt – würgt es schon? Sue Williams’ aus einer gelblichen Substanz gegossener „Vomithead“, Kotzekopf also? Judy Chicago, die sich einen vollgesogenen blutigen Tampon aus der Scheide zieht?

Körperflüssigkeiten. Blut, Schleim, Urin, Exkremente. Alles, was in uns steckt, Alltägliches, Biologisches. Und doch, hundert Jahre nach Freud, noch immer ein Tabu. Ist Ekel, von Hermann Nitsch als Zivilisationskrankheit bezeichnet, als Verklemmung, Blockade, lange bevor die wirkliche Extremerfahrung einsetzt, nicht eher psychologische Notbremse, Selbstschutz?

Die Berliner Kunst-Werke machen die Probe aufs Exempel: „Into Me/Out of Me“ heißt die Ausstellung, die der Kunst-Werke-Begründer und heutige Chef des Media-Department am Museum of Modern Art im Sommer für den New Yorker Ausstellungsraum P.S.1 kuratiert hat und die nun auch in Berlin zu sehen ist. Es geht, in einem wilden Parforce-Ritt durch Kunstgeschichte, Kunstrichtungen, Länder und Szenen, um den Körper und seine Umwelt, um Körperöffnungen, das, was aus ihnen herauskommt, das, was in sie eindringt, es geht um die Integrität des Körpers und um seine Verletzlichkeit. Und es geht, auch für den Besucher, um Extremerfahrung.

Will man die? Braucht man die? Die Künstler des Wiener Aktionismus, Hermann Nitsch, Otto Mühl & Co., gehen in ihren Performances aufs Ganze, auch auf die Gefahr der Selbstverletzung hin. Auch andere Künstler der siebziger Jahre wie Chris Burden, der sich auf einen VW-Käfer nageln lässt, Gina Pane, die sich Dornen unter die Haut schiebt, oder Valie Export, die sich die Fingerspitzen abschneidet und die blutigen Finger in Milch taucht, spielen ein durchaus gefährliches Spiel der Grenzerfahrung. Der österreichische Künstler Rudolf Schwarzkogler verblutete bei einer seiner Performances.

Die christliche Ikonografie, Kreuze, Dornen, Nägel, Blut, die Vorstellung von Opfer, Mystik, Überhöhung, eine gehörige Dosis Nietzsche, das alles erscheint uns im Rückblick als faszinierendes, aber überholtes Experiment. Heute ist es eher die Realismusfalle, in die man tappt. Schon die früh verunglückte Ana Mendieta spielte damit in ihrer Fotoserie „Rape Scene“. Auch Teresa Margolles, die über Kopfhörer die Geräusche aus der Morgue einspielt, ein kreischendes Sägen, schmatzendes Schneiden, Gluckern – ist das echt, ist das gespielt? Und macht es einen Unterschied? John Bocks genüsslich ausgespielte Folterszenen, Matthew Barneys Selbstverstümmelungen, die Hautfragmente, die er zu Zeichnungen verarbeitet, Paul McCarthys Gruselszenarien – das ist fiktiv. Kunstblut und Tricks. Aber die Frage bleibt: Geht es darum, den Voyeurismus des Zuschauers zu bedienen – oder ist das stellvertretende Leiden des Künstlers wirklich eine Qualität der Kunst, jenseits von Selbsterfahrung? Ein Ausbruch aus der Fiktionsfalle, hin zum Eigentlichen?

Denkt man die Sehnsucht nach Authentizität weiter, landet man – auch – beim Ausagieren von Killer-Computerspielen durch Jugendliche. Doch was lockt erfolgreiche junge Ausstellungsmacher wie Biesenbach an diesem Thema, das er zettelkastenartig, quasi in Rohversion, in die Ausstellungsräume kippt, 137 Künstler, rund 350 Arbeiten, kaum beschriftet, geschweige denn erklärt, eine erste Bestandsaufnahme, die den Besucher mit seinen Eindrücken allein lässt – der sicherlich hilfreiche Katalog soll erst im Frühjahr erscheinen.

Die erste Anregung kam von der 2004 verstorbenen Publizistin Susan Sontag, die ganz andere Reflektionen zum Thema Gewalt, Voyeurismus, aber auch Krankheit und Umgang mit dem eigenen Körper mitbrachte – und eine ganze Reihe von Künstlerkontakten, wie Paul Thek oder Robert Mapplethorpe. Aber auch Biesenbach erntet mit dieser Ausstellung die Früchte seiner Arbeit: Künstler wie Henry Darger mit seinen fantastischen Zeichnungen, auf denen kleine Mädchen gefoltert und misshandelt werden, die Brüder Jake und Dinos Chapman, die Mexikanerin Teresa Margolles, das Kollektiv General Idea, Felix Gonzales-Torres mit seinen Bonbonbergen oder Santiago Sierra sind durch Ausstellungen in den Kunst-Werken in Berlin bekannt geworden. Schocker schon damals – heute schon fast Klassiker einer neuen Debatte um Gewalt und Kunst.

Spannender sind jüngere, noch relativ unbekannte Positionen: Cheryl Donegan, die Milch aus einer Kanne trinkt, zurückspuckt und wieder davon trinkt, bis sie nicht mehr kann, Andrea Fraser, die anbietet, mit ihren Sammlern zu schlafen, Regina José Galindo, die mit blutigen Füßen durch Guatemala-Stadt wandert, die Israelin Sigalit Landau, die mit einem Hullahup-Reifen aus Stacheldraht spielt, Monica Majoli, die in zarten Zeichnungen Sadomaso-Masken verfremdet, LA Raeven, die junge Frauen zeigt, die das Essen verweigern, erschreckend abgemagert – auch ein Kommentar zum Thema Körper.

In New York war die Ausstellung im Sommer talk of the town: Er habe sich gewundert, dass sie nicht vorzeitig geschlossen worden sei, erzählt Biesenbach. Doch auch in Berlin erwartet man empörte Reaktionen. Die Fragen, die „Into Me/Out of Me“ nach unserm Umgang mit dem eigenen Körper stellt, schmerzen auch in der vermeintlich freiheitlicheren westlichen Gesellschaft. Entscheiden muss jeder selbst: Will man das wirklich wissen, wirklich sehen? Jugendschutz ist hier nicht die Frage. Selbstschutz viel eher. Machen Sie den Selbstversuch. Christina Tilmann

Into Me/Out of Me, Kunst-Werke, Auguststr. 69, bis Februar 2007

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