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Foto: Viktoriia Yakymenko

© Foto: Viktoriia Yakymenko

Ukrainisches Kriegstagebuch (102): Unser Welthit „Schtschedryk“

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über seine Sicht auf den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

18.1.2023
Der Bau des Charkiwer Operntheaters auf der Sumska Straße hat 1971 begonnen, vier Jahre vor meiner Geburt, und dauerte laut Wikipedia bis zum Jahr 1992. Die Sowjetunion ist zerfallen, die Ukraine wurde unabhängig – und es war immer noch nicht fertig. In Charkiw scherzte man oft über die endlose Baustelle im Herzen des Stadtzentrums.

Als das Theater dann doch eröffnet wurde, waren die Bürger nicht ganz überzeugt, viele fanden das neue Gebäude hässlich. Ich war inzwischen 17 und ging oft hin, bloß nicht zu den Vorstellungen, sondern in den Plattenladen, der sich im Keller des rechten Theaterflügels befand. Draußen auf der Treppe, die in den Keller führte, fand fast täglich eine spontane Börse der privaten Plattenverkäufer statt, von denen ich oft polnische Bootleg-Kassetten mit der aktuellen Rockmusik aus dem Westen kaufte. 

Auf dem Platz vor dem Operntheater wurden rechts und links elegante Springbrunnen installiert. An einem sonnigen Herbsttag, es muss 1993 gewesen sein, habe ich dort mit meiner Kommilitonin Julia unsere Sprachwissenschaft-Vorlesungen geschwänzt. Ich hatte zwei Flaschen Weißwein dabei, der so ekelhaft warm war, dass wir ihn im Brunnen kühlten. Am Ende waren wir ziemlich betrunken. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet dieser Tag mir so gut in Erinnerung blieb.    

An meinem Geburtstag vor einigen Tagen hat Serhij Zhadan zusammen mit dem Literaturmuseum im Charkiwer Operntheater ein Rock-Festival veranstaltet und es gab keinen anderen Ort auf der Welt, wo ich lieber gewesen wäre, denn das Line-Up war einfach fabelhaft: Serhij und seine Band, dann die Rapper von Kurgan & Agregat, nach ihnen die ukrainischen Rolling Stones aus Lwiw Braty Gadyukiny und anschließend Oleg Skrypka von der legendären Kiewer Band VV.

Moderiert haben das Ganze der coolste Stand-up-Comedian Charkiws Oleksandr Kolmen Serdiuk zusammen mit Irena Karpa, die extra dafür für einen Tag aus Paris angereist war. Zwar kann ich nicht dabei sein, aber ich schaue mir auf YouTube das ganze vierstündige Konzert an.  

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VV von Oleg Skrypka gehören zu den Pionieren der ukrainischen Rock’n’Rolls, für mich war ihr Konzert 1990 das erste, bei dem ich Ukrainisch als eine coole, durchaus rockmusik-taugliche Sprache empfand. In der Serie 33 ⅓ von Bloomsbury Publishing in den USA, bei der es um die wichtigsten Platten der Popgeschichte geht, erscheint diesen Sommer ein Buch von Maria Sonevytsky über VVs erstes Album „Tantsi“.

Die Ukrainische Republikanische Kapelle machte den Song in der Welt bekannt

VV können zur Zeit nicht auftreten, da ihr Gitarrist Jevgen Rogatschevskij an der Front ist. In Charkiw tritt Oleg Skrypka mit jungen Begleitmusikern auf und fängt sein Set mit „Schtschedryk“ an, dem bekanntesten ukrainischen Song des 20. Jahrhunderts, den die Welt als „Carol Of The Bells“ kennt und liebt.     

Neulich schaute ich mir eine neue, sehr beeindruckende Doku über „Schtschedryks“ Botschafter, die Ukrainische Republikanische Kapelle. Gegründet in der Ukrainischen Volksrepublik im Jahr 1919, war ihr Ziel die Popularisierung der ukrainischen Musikkultur im Ausland und vom Komponisten Mykola Leontowytsch Schtschedryk war der große Hit in ihrem Repertoire.

Es war eine schwierige, turbulente Zeit, die Musiker mussten oft hungern, trotzdem ging die 80-köpfige Kapelle unter der Leitung des Dirigenten Oleksandr Koshyts nach einer intensiven Probenphase im März 1919 auf große Tour.

Tschechien Österreich, Deutschland, Frankreich, Belgien und Großbritannien entdeckten dank ihren Konzerten die ukrainische Musik für sich. Im Februar 1920 hörte die Ukrainischen Volksrepublik auf zu existieren, einen Monat später löste sich die Kapelle in Berlin auf.

Aus ihren ehemaligen Mitgliedern stellte Koshyts den Ukrainischen Nationalchor zusammen, der noch lange durch die Welt tourte und sich schließlich 1922 in den USA niedergelassen hat. Während der Chor das Publikum mit seiner Interpretation von „Schtschedryk“ verzauberte, wurde sein Autor im Januar 1921 von einem Tscheka-Agenten brutal erschossen.             

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