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Verheulte Augen. Sängerin Levina.

© dpa

Eurovision Song Contest: Wo ist bloß der Wahnsinn hin?

Die Angst vor dem Exzess: Beim Finale des Eurovision Song Contests in Kiew führte zu viel Konsens zu Plastikpop. Tod durch Langweile. Besonders blutleer war der Beitrag der deutschen Kandidatin Levina.

Wo ist bloß der Wahnsinn hin? Was ist geworden aus den Entertainern mit Fernfahrerkoteletten, die schrundige Liebeslieder schmachten? Warum sind finnische Hardrocker ausgestorben, denen Fledermausflügel aus dem Rücken wuchsen und Hörner aus den Köpfen? Bläst niemand mehr unförmig Pan-, Punk- oder Panikflöten, tanzt keiner barfuß einen allerletzten Kasatschok?

Wenn der Eurovision Song Contest (ESC), dessen Finale in Kiew am Samstagabend 1,5 Millionen weniger deutsche Fernsehzuschauer als im Vorjahr sehen wollten, in der Krise steckt, dann deshalb: Weil er den Exzess fürchtet. So droht der Tod durch Langeweile. Der Trash wird bereits in den Vorrunden ausgesiebt, übrig bleiben die geklonten Vertreter eines wie mit dem Sandstrahlgebläse auf Gleichförmigkeit getrimmten Mainstream-Rockpops, der in vielen europäischen Ländern schon das Radiohören zur Tortur macht.

Willkommen in der Zeichenhölle

Ähnlich uninteressant wie die Musik waren die meisten Performances. Immer wieder stolzierten Sänger und Sängerinnen einsam durch Trockeneisnebel, immer wieder loderten Feuerflammen dramatisch in den Bühnenhimmel. Willkommen in der Zeichenhölle. Die aserbaidschanische Vertreterin Dihaj bewegte sich zu ihrer dystopischen Electropophymne „Skeletons“ durch schwarz-weiß beschriftete Gefängniskulissen und setzte Kreuze auf den Rücken von Trenchcoat-Trägern. Ein Fall von eisiger Gesellschaftskritik, der allerdings auf dem Berliner Theatertreffen besser aufgehoben gewesen wäre.

„Musik ist kein Feuerwerk, Musik ist ein Gefühl“, sagte der portugiesische Sieger Salvador Sobrai, der seinen Gewinn als Auszeichnung für eine Musik verstand, „die etwas bedeutet“. „Amor pelos dois“, zelebriert vor der Projektion eines verwunschenen Waldes, ist ein traurig-schöner Fado, der von Geigen und einem Klavier getragen wird. Leicht irrsinnig wirkt der verkrachte Psychologiestudent, wenn er kauernd und bartkratzend den Song singt, den seine Schwester Luisa für ihn geschrieben hat und dessen Titel übersetzt bedeutet: „Liebe für uns beide“. Sobrai profilierte sich als großer Anti-Performer, es schien, als ob der Geist des kurz zuvor verstorbenen Catweazle-Darstellers Geoffrey Bayldon in ihn gefahren wäre.

Musikalisch stärker waren allerdings die Beiträge aus Bulgarien und Ungarn (Platz 2 und 8). Wenn Kristian Kostov, ein 17-jähriges bulgarisches Wunderkind mit Heintje-Frisur, zwischen Falsett und Bariton wechselnd „Beautiful Mess“ singt, dann hängt sofort allergrößtes Adele-Pathos über der Halle. Und „Origo“ (=Ursprung), vom ungarischen Roma Joci Pápai in seiner Roma-Sprache präsentiert, ist beides, Hardcore-Folklore und politisches Statement.

Unterhaltung vom Recyclinghof

Leider lässt der Wahnsinn nach, zuverlässig ist er nur noch bei einem zuhause. NDR-Veteran Peter Urban, der den ESC seit zwanzig Jahren im deutschen Fernsehen begleitet, erweist sich in seinen stoisch vom Monitor abgelesenen Moderationen als Meister des doppelbödigen Nonsens. Nur Urban kann im bulgarischen Teeniestar Kristian Kostov den Wiedergänger von Bill Kaulitz und im schwedischen Teilnehmer Robin Bengtson den von Markus Lanz erkennen. Verdutzt reibt sich der Zuschauer die Augen und denkt: Stimmt genau, die kenne ich doch alle schon, der ESC ist ein einziger Recylinghof, ein Mummenschanz.

Peter Urban sagte auch noch, es geht um die griechische Kandidatin Demy: „Eine bessere Vorbereitung für den ESC als in einem Abba-Musical mitzuspielen, gibt es wohl nicht.“ Genau darin liegt das Problem. Denn unter den 26 Musikerinnen, Musikern und Bands, die an diesem dreieinhalbstündigen, gefühlt sechseinhalbstündigen Abend auftraten, scheinen ungefähr 20 Musical-Schulen besucht, nationale „X-Factor“-Fernsehshows gewonnen oder Pop-Akademien durchlaufen zu haben. Sie besitzen hervorragend ausgebildete Stimmen und können sich auf Bühnen so bewegen, dass es nicht peinlich wirkt. Aber eine neue Agnetha oder Anni-Frid, ein neuer Björn oder Benny ist ganz sicher nicht unter ihnen. Der Starfaktor: gegen Null.

In besonderem Maße gilt das für die deutsche Aspirantin Levina und ihren Beitrag „Perfect Life“. Der Auftritt der in Bonn geborenen Jugend-musiziert-Gewinnerin und Musikmanagement-Studentin war so elegant wie unterkühlt. Sparsame Gesten vor silber-weißen Kulissen. Kristalline Projektionen wie aus „Metropolis“, Clubkultur und Barfuß-Bodenständigkeit. Aber „Perfect Life“ klingt wie ein endloses Intro. Nie entlädt sich der Spannungsbogen in einem Refrain. Plastikpop. Keine Pop-Plastik.

Beinahe eine Sünderin

„I’m almost a sinner, nearly a saint“, heißt es verzagt im Text. Entschlossen beschwört Levina ein Gefühl der maximalen Unentschlossenheit, das sich ähnlich eindeutig anhört wie „Ein bisschen schwanger“ oder, um es mit der ESC-Siegerin Nicole zu sagen: „Ein bisschen Frieden“. Beim größten Musikfestival der Welt kann man aber nicht „fast“ eine Sünderin sein. Man muss alles zeigen wollen, die Sünde, den Schmerz, den Spott. That’s Entertainment. Ansonsten: Germany 6 Points. Damit verbesserte sich Levina nach der Nullnummer von 2016 auf den vorletzten Platz.

„Was sollen wir jetzt noch machen?“, wehklagte Barbara Schöneberger in der Aftershowparty. „Noch mal Costa Cordalis schicken?“ Bitte nicht. Erst einmal sollten wir den Bundestrainer feuern.

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