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Begegnungen erhöhen bei Modiano die Ortskenntnis. Mitte der sechziger Jahre in einem Café in der Pariser Rue de Buci.

© imago/United Archives Internatio

Neue Werke von Patrick Modiano: Zeit der Wiederkehr

Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano erinnert sich mit einem Prosaband und einem Theaterstück an seine Anfänge.

Man fragt sich schon auch manchmal, was Patrick Modiano eigentlich so im Kopf herumgeht, wenn er damit beginnt, ein neues Buch zu schreiben. Ob er darüber nachdenkt, sich womöglich zu wiederholen? Ob er wirklich glaubt, genau das noch nie erzählt zu haben, er alles, was vorher war, was er zuvor veröffentlicht hat, quasi „auslöscht“, wie er das einmal gesagt hat? In einem von zwei neuen Büchern, den ersten, die er seit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 2014 geschrieben hat, einem Theaterstück mit dem Titel „Unsere Anfänge im Leben“, gibt es am Ende einige schöne Sätze, die diese Fragen möglicherweise beantworten. Modianos ewiges anderes Ich, der junge Schriftsteller Jean Darange sagt da: „Ich habe das Gefühl, ich bin hier nicht mehr am richtigen Platz, aber ich trau mich nicht, das irgendwem zu sagen ... nur dir ... Tag für Tag ist es ein Kampf gegen die Einsamkeit ... und doch, in manchen Vierteln findet man plötzlich wieder den, der man gewesen ist.“

Flaneur der Erinnerung. Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano.

© Reuters

Man könnte es auch so sagen: Mit der Gegenwart hat der Schriftsteller und Erinnerungskünstler Patrick Modiano noch nie viel anfangen können, und seine Schreibmotivation besteht darin, auf der Suche nach sich selbst als junger Mann zu sein, als angehender Schriftsteller. Insofern ist es gut nachvollziehbar, dass Modiano dieses Theaterstück als Pendant zu seinem gleichzeitig veröffentlichten Prosabuch „Schlafende Erinnerungen“ versteht.

Darin hat eben jener Jean sein erstes Manuskript mit einer Schelle am Handgelenk befestigt, damit es nicht gestohlen wird und auch er selbst vor den Nachstellungen seiner Mutter Elvire und deren Freund Caveux sicher ist. Jeans Freundin Dominique ist wie die Mutter Theaterschauspielerin, sie spielt die Hauptrolle in einer Aufführung von Tschechows „Möwe“, mit ihr wohnt Jean in einer Theatergarderobe, und obwohl beide erst Anfang zwanzig sind, stecken sie schon voller Erinnerungen. So verschränken sich in diesem Stück die Zeitformen, ohne dass Modianos Prosa die ihr eigene verhangen-schwebende Dynamik entfalten könnte. Einzelne Sätze ragen heraus, wären jedoch besser in einem Roman oder eben in „Schlafende Erinnerungen“ aufgehoben.

Ein episodenhaftes Erinnerungswerk

Dieses Buch, das ist ungewöhnlich, tut nun explizit nicht mehr so, als würde es eine Geschichte erzählen, ein Roman sein. Vielmehr ist „Schlafende Erinnerungen“ ein episodenhaftes, konzentriertes, autobiografisch anmutendes Erinnerungswerk (und trägt als solches auch in der deutschen Ausgabe keinen Gattungsbegriff mehr). Häufig weist Modiano auf seine Schreibgegenwart hin („Heute, am 10. März 2017, habe ich die blassgrüne Mappe wieder aufgeschlagen“) oder erzählt davon, welche Episode er schon mal in einem Roman verwandt habe. Es korrespondiert also gut, wenn sein Jean in dem Theaterstück unvermittelt sagt, „in eine frühere Zeit“ zurückgekehrt zu sein, „plötzlich tief in die Vergangenheit“ abzutauchen – und Modiano wiederum seinen Prosaband damit beginnt, dass eines Tages ein Buch mit dem Titel „Die Zeit der Begegnungen“ sein Interesse geweckt habe, um dann anzuheben: „Auch für mich gab es eine Zeit der Begegnungen, in einer fernen Vergangenheit.“

Von diesen Begegnungen erzählt der 1945 in der Nähe von Paris geborene französische Schriftsteller hier; von Menschen, die ihm über den Weg gelaufen und wieder verschwunden sind, die er vergessen hat und an die er sich nun zu erinnern glaubt. Vermutlich gab es wirklich einige davon in seinem Leben, womöglich hat er sich viele von ihnen auch einfach nur ausgedacht.

In „Schlafende Erinnerungen“ sind es überwiegend Frauen: Mirelle Ourosov, Geneviève Dalame, Madeleine Péraud, Madame Hubersen und schließlich eine junge, namenlose Frau, die aus Versehen beim Herumhantieren mit einem Revolver einen zwielichtigen Mann getötet hat und mit der Patrick Modiano nun auf der Flucht ist. Alle diese Frauen haben einen leichten Defekt, wie auch der Erzähler, als er jung war. Sie stehen neben sich, interessieren sich für Okkultes, tauchen auf und tauchen wieder ab.

Spektakulär ist das nicht, was Patrick Modiano hier in seiner einfachen, widerstandslosen, trotzdem so verhangen-geheimnisvollen Prosa erzählt. Von Beginn an hat man das Gefühl, sich mit ihm und seinen Erinnerungen in einer Pariser Zwischen-, Traum- und Schattenwelt zu befinden; in einem Paris, das in dieser Form schon lange nicht mehr existiert und von Modiano geradezu beschworen wird.

Ein Zauber liegt auf dieser Prosa

Es liegt ein Zauber auf diesen Sätzen, auf den vielen Namen der Menschen, Straßen und Orte, auf den Büchern, die ebenfalls eine wichtige Rolle spielen: solche, die tatsächlich geschrieben worden sind wie die von Hans Fallada, „Das Dschungelbuch“ oder Alexandre Dumas’ „Der Vicomte de Bragelonne“, alles Bücher, die in der Bibliothek der Mutter des Ich-Erzählers standen, als diese 1942 nach Paris gekommen war, und die nun in Modianos vermeintlichem Studentenzimmer vor sich hin stauben. Und auch solche Bücher, die nur in der Fantasie von Modiano existieren, mit sprechenden Titeln wie eben „Die Zeit der Begegnungen“ oder auch, sein Werk auf den Punkt bringend: „Die ewige Wiederkehr des Gleichen“.

Würde man so wie Modianos Erzähler dem Zauber der Menschen und Orte von damals wirklich auf den Grund gehen, würde man versuchen, hinter ihre Wirklichkeit zu kommen und zum Beispiel die Pariser Wege abgehen, ginge dieser Zauber sicher verloren. So endet dieses Buch vielsagend mit den Worten: „In deinen Erinnerungen vermischen sich Bilder von Straßen, auf denen du gefahren bist, und du weißt nicht mehr, welche Provinz sie durchquerten.“ Genau so geht es einem mit der Lektüre von Modianos Büchern: Die Erinnerung an sie vermischt sich – und manchmal fragt man sich, ob er all das wirklich geschrieben hat oder es nur in unserer Einbildung existiert.

Patrick Modiano: Schlafende Erinnerungen. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2018. 111 Seiten, 16 €.

Patrick Modiano: Unsere Anfänge im Leben. Theaterstück. Übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser, München 2018 110 S., 16 €.

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