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Die Autorin Jarka Kubsova.

© Christoph Niemann

Zwei Frauen, zwei Jahrhunderte: „Marschlande“ von Jarka Kubsova

Eine Geografin recherchiert einer Bäuerin hinterher, die vor 500 Jahren am gleichen Ort wie sie wohnte. Autorin Jarka Kubsova verwebt die Lebenswege zweier Frauen.

In früheren Jahrhunderten hatte der Mensch bei Wechselfällen der Natur noch nicht seine Hand im Spiel, vielmehr glaubten die Leute, dass Gott oder der Teufel das Unglück über sie brächte. Und mit dem Teufel waren im 16. Jahrhundert die Hexen verbündet, Frauen, die ein bisschen klüger und weitsichtiger waren als die tumben Bauern im Umland Hamburgs, den Marschlanden, und ihnen deshalb unheimlich. Die landgierigen Patrizier aus der Stadt machten sich den Hexenglauben auch dienstbar, um Bauern zu legen.

Größerer Weitblick

Diese Geschichte, die von der Bäuerin Albeke Bleken handelt, die 1570 das große Allerheiligenunwetter voraussah und im Unterschied zu allen anderen ihre Tiere und Vorräte in Sicherheit brachte, bildet einen Teil des „Marschlande“ titelnden Romans der in Hamburg lebenden Schriftstellerin Jarka Kubsova.

Auf einer zweiten Ebene wird von der Geografin Britta Stoever erzählt, die mit ihrer Familie aus Hamburg in das Niederungsgebiet der Elbe in ein Haus zieht und damit vor allem den Traum ihres Ehemanns Philipp erfüllt. Durch ein Straßenschild wird sie auf die ihr unbekannte Albeke aufmerksam, die den von ihrem Vater geerbten, prächtigen Hufenhof alleine mit ihrem Gesinde bewirtschaftete, und beginnt sich mit deren Geschichte zu beschäftigen. Noch ziemlich isoliert, unternimmt die Geografin lange Streifzügen durch die neue, ihr auch unheimliche Landschaft: „Für sie ging es vor allem um einen Code, der ihr half, die Gegend zu enträtseln.“

Aufgabe der eigenen Identität

Als Zugezogene hat sie Probleme, im Dorf „anzukommen“. Der Mann ist tagsüber aus dem Haus, sie ist, ohne dass sie es richtig merkte, in eine Rolle gefallen, die sie nicht nur die Karriere gekostet hat, sondern auch ihre Identität: „Eine alte Geschichte“, wie das letzte Kapitel überschrieben ist. Alternierend erzählt Kubsova von Brittas zuerst nur neugieriger, dann immer obsessiver werdender Recherche.

Zunächst nur ein Name und eine ferne Figur, dringt die Mittvierzigerin ein in das Schicksal Albekes, auf deren Grundstück durch das Unwetter der Deich bricht. Die Gerüchte ihrer Nachbarn werden immer lauter und schließlich sieht sie sich von zurückgewiesenen, missgünstigen und gierigen Männern immer mehr in die Enge gedrängt. Auch der Neid der Frauen und das Bedürfnis nach Erklärungen befördert den Aberglauben: Da war der Teufel im Spiel.

Parallelen zur eigenen Situation

Obwohl sich Albekes Geschichte und ihr schreckliches Ende vor über 500 Jahren abspielte, meint Britta Parallelen zu ihrer eigenen Situation zu erkennen. Philipp, der sie in eine konservative Hausfrauenrolle drängt und immer autoritärer wird, wird ihr immer fremder. Sie muss erleben, wie ihre halbwüchsige Tochter Mascha in der Schule gemobbt wird. Es kommt zu Streit, bis Britta merkt, dass sie dieses Leben nicht mehr will und ihre Ehe nicht zu retten ist. Durch ihre Nachforschungen kommt sie einigen Frauen im Dorf näher und findet eine Unterstützung, die sie der Hufbäuerin gewünscht hätte.

Doch deren Schicksal ist irreversibel geschrieben. Kubsova gelingt es, ihre Leserschaft in eine ferne Zeit mitzunehmen und diese geschickt mit der Gegenwart zu verbinden. Beide Frauen kämpfen gegen das Patriarchat. „Der gefährliche Moment für Frauen ist oft erst der, wenn sie anfangen, sich zu wehren. Wenn sie Gewalt, Straftraten, Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen wollen“, erklärt die Sozialhistorikerin Ruth, die Britta bei ihrer Suche begleitet. So begann ja auch die Me-Too-Bewegung.

Auch Albeke Bleken, die unrechtmäßig enteignet wird, will nicht hinnehmen, was ihr widerfährt, selbst noch als Taglöhnerin ist sie davon besessen, sich zu rächen: „Ihr behandelt mich wie eine Hexe, dann will ich eine sein.“ Doch auch das hilft ihr nichts, sie wird „eingezogen“. Die letzte Episode ihres Lebens in der Hamburger Folterkammer und auf dem Richtplatz verfremdet Kubsova geschickt, indem sie sie aus der Perspektive des alternden amtsmüden Richters erzählt, dem das Ganze eigentlich zu viel ist, doch seinem jungen eifernden Nachfolger nachgeben muss.

Hohe politische Schönheit

Dem Problem, historische Personen in der damals üblichen Art miteinander reden zu lassen, entgeht aber auch Kubsova wie viele ihrer Kolleg:innen, die Vergangenheit dramatisch zu vergegenwärtigen suchen, nicht. Sie verwebt viele aus dem Niederhochdeutschen überlieferte Sprüche und Redeweisen, und wenn man bei einem Begriff wie „albern“ zucken sollte, kann durch Nachschlagen lernen, dass er schon damals im Sinne von töricht verwendet wurde.

Doch manchmal verweisen die Dialoge auch auf ihre moderne Erfinderin, was der historischen Unmittelbarkeit aber keinen Abbruch tut. Und was Kubsova, die es mit ihrem Erstling „Bergland“ auf die Jahresbestsellerliste brachte, auf Brittas Spaziergängen an der Elbe und auf dem Deich entdeckt und „enträtselt“ und die Bilder, die sie dafür findet, hat hohe poetische Schönheit.

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