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Im Bild ist die Evangelische Kirche Kremmen zu sehen.

© Tagesspiegel/Kitty Kleist-Heinrich

Krise der evangelischen Kirche: Vertuschung, Führungsschwäche und eine Dominanz der Beliebigkeit – das kann nicht gut gehen

Nach dem Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Kurschus herrscht Chaos in der evangelischen Kirche. Sie muss begreifen: Predigten allein verbinden die Kirche nicht mit der Welt.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Was wird aus der evangelischen Kirche? Sie befindet sich nach dem Rücktritt ihrer Ratsvorsitzenden Annette Kurschus in einer Krise ungeahnten Ausmaßes – und verhält sich, als gebe es die nicht. Krise haben immer nur die anderen.

Dabei nimmt die Wucht der Wellen gegen die Protestanten zu. Ihre ranghöchste Kirchenvertreterin mag es als ungerecht empfinden – ihr Mangel an Transparenz hat sie, unter anderem, das Amt gekostet. Und das 13 Jahre nach den Missbrauchsvorwürfen am katholischen Canisius-Kolleg.

Mangel an Transparenz ist zumal vor diesem Hintergrund ein Alarmzeichen. Ist das doch eine besondere Form des Egoismus, eine Untugend, die üblicherweise von der Kirche gegeißelt wird. Und Egoismus kennt keine Empathie.

Was aber ist Kirche, wenn nicht der Ort der Empathie? Menschen, darum geht es. Die Ratsvorsitzende hat es im entscheidenden Moment versäumt, sich radikal an die Seite der Betroffenen zu stellen. Sie hat sich bedeckt gehalten, anstatt alles für die Aufdeckung zu tun. Das konnte, das durfte nicht gut gehen.

In der evangelischen Kirsche herrscht ein eklatanter Mangel an Führung

Es ist ja nicht so, dass nur die Katholiken schuld sind; dass nur sie der evangelischen Kirche das Missbrauchsthema eingebrockt hätten. Allerdings hat die sich so verhalten, nahezu gekränkt reagiert, beleidigt.

Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland EKD, Annette Kurschus.

© imago/epd/IMAGO/Detlef Heese

Nein, das ist eine Lebenslüge. Eine große Studie zeigt es: Die Zahl der Opfer ist nicht geringer, nur weil die Täter keine Soutane tragen. Es sind Abertausende Leben, die ruiniert wurden. Und die Aufarbeitung steht im Gegensatz zur katholischen Kirche noch am Anfang.

Der Fall Kurschus zeugt davon. Er wirft ein Schlaglicht auf die Zustände. Und sage niemand, dass ihre kommissarische Nachfolgerin Kirsten Fehrs in der Bewältigung weiter sei. Die Betroffenen haben auch mit ihr schon sehr gehadert. Die evangelische Kirche darf sich im Umgang mit sexualisierter Gewalt nicht besser dünken.

Dass Kurschus gehen musste, weil sich die Synode von ihr, sagen wir: hintergangen fühlte, ist aber nur ein Teil des Problems. Ein weiterer ist: der eklatante Mangel an Führung, der – wenn es so weitergeht – die Institution bedroht. Und zwar dann auch nicht nur die evangelische.

Predigten allein verbinden Kirche nicht mit der Welt

Spannungen werden greifbar, Risse deutlich. Fromm und gottesfürchtig zu sein, reicht nicht zur Kirchenleitung, schon gar nicht in dieser Zeit. Kurschus hat nicht geleitet, sondern den Apparat walten lassen. Predigten allein verbinden Kirche nicht mit der Welt.

Ein Beispiel: Den Paragraphen 218 zum Schwangerschaftsabbruch für die Frau zu entkriminalisieren, ist ein großes Thema, ein sehr großes, schon gar für die Kirchen. Denn damit geht die Debatte um das christliche Menschenbild einher. Kurschus hat sie nicht geführt, auch kein anderer aus der Spitze. Wenn Kirche Progressivität nicht mehr nach ihrem Bezug zu sich befragt, braucht es sie nicht mehr. Dann ist sie eine NGO unter vielen.

Doch an den theologischen Grundlagen zu rütteln, erfordert logischerweise, zwangsläufig, eine tiefgehende Debatte in der Breite der Kirche, mit allen Strömungen, von Pietisten, Lutheranern, Reformierten bis zu den Freikirchen. Wer hier den Eindruck des grassierenden Verlusts an Religiosität noch fördert, verwirkt den Anspruch von Kirche, die Grundlagen der Gesellschaft zu prägen.

Stattdessen gibt es eine Dominanz der Beliebigkeit. Dabei ist das christliche Menschenbild eine ewige Herausforderung der Moralität. Es reicht von der Wiege bis zur Bahre, und für den, der’s glaubt, darüber hinaus.

Was gerade viele auch genau so empfinden und sich deshalb abwenden. Die evangelische Kirche verliert gleich an mehrerlei Stellen die Bindung: die an sich, an ihren Glauben, ihre Glieder. Die Kirche der Aufklärung, so die Selbstsicht, verhält sich nicht aufgeklärt und bleibt auch noch zurück in der Aufklärung ihrer Verfehlungen. Sie geht nicht schonungslos mit sich ins Gericht, urteilt vielmehr stattdessen lieber über alle anderen, die Politik, die Katholiken.

Nach der Kurschus-Krise gilt umso mehr: Hochmut kommt vor dem Fall. Und Hoffart kommt vor dem Sturz, sagt das Kursbuch, die Bibel. Will sagen: Wer sich selbst überschätzt, wird scheitern. Da ist die evangelische Kirche schon sehr weit gekommen.

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